Entscheidungsstichwort (Thema)

Leistungen der Hilfe zur Pflege während eines vorübergehenden Auslandsaufenthaltes. Sozialhilfe. Hilfe zur Pflege. Zuständigkeit für Kostenübernahme. dreimonatiges Auslandspraktikum bei gewöhnlichem Aufenthalt im Inland. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Hält sich eine Hilfeempfängerin, die aufgrund ihrer Schwerstbehinderung auf Leistungen der Hilfe zur Pflege angewiesen ist, für ein dreimonatiges Praktikum im Ausland auf, ohne dabei ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aufzugeben, so hat sie auch während dieser Zeit einen Anspruch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege.

2. Dies folgt aus § 30 Abs. 1 SGB I, der für einen Anspruch auf Sozialleistungen einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland genügen lässt. Abweichendes ergibt sich weder aus der Zuständigkeitsregelung in § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB XII noch aus dem Territorialitätsprinzip oder einem allgemeinen Grundsatz, dass ein Anspruch auf Sozialhilfe einen tatsächlichen Aufenthalt im Inland voraussetzt. Ob ein solcher Grundsatz dem SGB XII entnommen werden kann, ist zweifelhaft. Jedenfalls kann er keine Geltung beanspruchen in Fällen, in denen der Hilfebedarf während eines vorübergehenden Auslandsaufenthaltes bereits vorher klar umrissen feststeht und Änderungen realistisch nicht zu erwarten sind.

 

Orientierungssatz

1. Der gewöhnliche Aufenthalt gem § 30 Abs 1 SGB 1 liegt dort, wo sich der Hilfeempfänger unter solchen Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Dies ist dann der Fall, wenn der jeweilige Ort nicht nur vorübergehend zum Mittelpunkt der Lebensbeziehungen einer Person wird, was wiederum eine gewisse Verfestigung der Lebensverhältnisse an diesem Ort, insbesondere in familiärer, sozialer und beruflicher Hinsicht voraussetzt (vgl BVerwG vom 31.8.1995 - 5 C 11/94 = BVerwGE 99, 158 = FEVS 46, 133).

2. Die Vorschriften zur Hilfe zur Pflege sind unter Zugrundelegung des Grundsatzes des Verbotes einer Benachteiligung wegen Behinderung gem Art 3 Abs 3 S 2 GG dahingehend auszulegen, dass ungerechtfertigte Benachteiligungen des Hilfeempfänger aufgrund der Angewiesenheit auf diese Leistungen und damit wegen seiner Behinderung ausgeschlossen werden.

3. Hat ein Dritter den Bedarf des Hilfeempfänger tatsächlich gedeckt, darf dies dem Sozialhilfeanspruch dann nicht entgegengehalten werden, wenn der Dritte die Hilfeleistung nur deshalb erbracht hat, weil der Träger der Sozialhilfe nicht rechtzeitig eingegriffen oder ein Eingreifen abgelehnt hat; der Grundsatz der Nachrangigkeit von Sozialleistungen nach § 2 SGB 12 greift damit nicht ein (vgl BVerwG vom 2.9.1993 - 5 C 50/91 = BVerwGE 94, 127 = FEVS 44, 322).

 

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 9.2.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3.7.2006 verpflichtet, der Klägerin für die Zeit ihres Auslandspraktikums im Sommer 2005 Hilfe zur Pflege in Form der Übernahme der nachgewiesenen Kosten für Assistenzkräfte zu gewähren.

2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Übernahme der Kosten für Assistenzkräfte, die ihr in der Zeit eines Auslandspraktikums vom 20.6.2005 bis 20.9.2005 entstanden sind.

Die 1979 geborene Klägerin ist schwerbehindert und auf den Rollstuhl angewiesen. Sie erhält von der Beklagten neben Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gemäß § 41 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) auch Leistungen der Hilfe zur Pflege gemäß § 65 SGB XII für eine 24-Stunden-Versorgung durch Assistenzkräfte. Die Assistenzkräfte sind bei der Klägerin als Arbeitnehmer eingestellt. Für die hierdurch entstehenden Kosten erhält die Klägerin von der Beklagten einen Vorschuss in Höhe von 5.000,- € monatlich. Zum Monatsende erfolgt dann eine konkrete Abrechnung, auf deren Grundlage die Klägerin zusätzliche Leistungen erhält.

Die Klägerin studierte Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule für W. Am 5.2.2005 teilte sie der Beklagten mit, sie beabsichtige, im Sommer 2005 ein Praktikum in Madagaskar zu absolvieren, und beantragte die Übernahme der ihr in dieser Zeit entstehenden Kosten für Assistenzkräfte.

Mit Bescheid vom 9.2.2005 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, die Leistungen könnten nur im Geltungsbereich SGB XII erbracht werden.

Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 9.3.2005 Widerspruch. Sie teilte mit, dass ein dreimonatiges Praktikum von Mitte Juni bis Mitte September 2005 beabsichtigt sei. Ziel des Praktikums sei einerseits, Auslandserfahrungen zu sammeln, was für Betriebswirtinnen unverzichtbar sei. Andererseits sei es für sie aus beruflichen Gründen auch wichtig, ihre Mobilität und Flexibilität unter Beweis zu stellen. Es gehe ihr besonders darum zu zeigen, dass sie trotz ihrer Angewiesenheit auf Rollstuhl und Assistenz auch unter erschwerten Bedingungen Leistungen in dem von ihr angestrebten beruflichen Umfeld erbringen kann. Das Praktik...

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