Leitsatz (amtlich)
1. Das Gericht kann gemäß § 130 Abs. 2 SGG durch Zwischenurteil über eine Rechtsfrage vorab entscheiden, wenn von ihrer Beantwortung abhängt, ob aufwändige historische Sachverhaltsermittlungen erforderlich sind oder die Klage ohne weitere Sachaufklärung abzuweisen ist.
2. Der Beginn der Regelaltersrente vor dem 1. Juli 1997 steht der Neufeststellung der Rente unter Anrechnung von Ghetto-Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (GhettoG) nicht entgegen.
3. Dies gilt auch dann, wenn die Entgeltpunkte unabhängig von der Rechtsänderung – hier: Anrechnung einer zusätzlichen Ersatzzeit – neu bestimmt werden müssen.
Tenor
1. Der Beginn der Regelaltersrente vor den 1. Juli 1997 steht der Neufeststellung der Rente unter Anrechnung von Ghetto-Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungsverhältnissen in einem Ghetto nicht entgegen.
2. Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die rentensteigernde Anrechnung einer Ghetto-Beitragszeit.
Der Kläger wurde im … 1925 in M. bei W. in Polen geboren. Nach der deutschen Besetzung seiner Heimat wurde er als Jude Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Von Januar 1941 bis Juni 1942 lebte er in dem in Minsk-Mazowieck errichteten Ghetto (damals sog. „Generalgouvernement”). Nach seinen Angaben im Entschädigungsverfahren leistete er hier Reinigungs- und Straßenbauarbeiten. Anschließend wurde er in das Lager Plaszow verbracht, wo er im Januar 1945 befreit wurde. Dem deutschen Sprach- und Kulturkreis gehörte der Kläger nicht an. Am … 1949 kam in München sein Sohn J. zur Welt. Seit 1959 lebt der Kläger in den USA und besitzt inzwischen die US-amerikanische Staatsangehörigkeit.
Mit Bescheid vom 4. März 1993 gewährte die Beklagte dem Kläger ab dem 1. Januar 1992 Regelaltersrente. Sie rechnete dabei die Zeit vom 1. August 1949 bis zum 31. Juli 1950 als Pflichtbeitragszeit für Kindererziehung und die Zeit vom 1. Januar 1941 bis 31. Januar 1945 als Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung an. Ab April 1993 betrug die monatliche Rente 65,51 DM.
Mit Schreiben vom 2. Juli 2002, bei der Beklagten eingegangen am 8. Juli 2002, machte der Kläger erstmals in einem Ghetto zurückgelegte Beitragszeiten, außerdem weitere Ersatzzeiten, geltend. In einem für die Beklagte ausgefüllten Vordruck legte er dar, im Ghetto Minsk-Mazowieck mit dem Schlagen von Steinen für den Straßenbau beschäftigt gewesen zu sein. Die Arbeitszeit habe täglich 12 Stunden betragen, die Arbeitsvermittlung sei durch die Ghetto-Verwaltung erfolgt. Es sei eine Entlohnung in Form von Nahrung und Bezahlung gewährt worden.
Mit Bescheid vom 20. Januar 2003 stellte die Beklagte die dem Kläger gewährte Regelaltersrente unter zusätzlicher Anrechnung einer Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung vom 1. Februar 1945 bis zum 31. Dezember 1949 neu fest. Die hieraus erwachsende höhere Rente wurde ab 1. Januar 1998 nachgezahlt. Ab März 2003 betrug sie monatlich 79,12 EUR. Mit demselben Bescheid lehnte die Beklagte die rentensteigernde Anrechnung einer Ghetto-Beitragszeit nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) vom 20. Juni 2002 ab. Renten nach dem ZRBG könnten frühestens am 1. Juli 1997 beginnen. Werde zu diesem Zeitpunkt bereits eine Rente mit früherem Rentenbeginn gezahlt, sei das ZRBG allein kein Grund für eine Neufeststellung der Rente (§ 306 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch -SGB VI-). Das ZRBG sei daher im vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil bereits eine deutsche Rentenleistung mit einem Rentenbeginn vor In-Kraft-Treten des ZRBG am 1. Juli 1997 gezahlt werde.
Der Kläger erhob Widerspruch und begründete diesen insbesondere damit, dass die Regelung des § 306 Abs. 1 SGB VI der Neufeststellung der Altersrente unter Berücksichtigung des ZRBG nicht entgegenstehe. Bei § 306 SGB VI handele es sich um eine Ausnahmeregelung zu § 300 Abs. 1 SGB VI. Sie sei daher nur anwendbar, wenn eine Vorschrift des SGB VI geändert werde. Hierzu zähle das ZRBG nicht.
Mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung legte sie im Wesentlichen dar, dass § 306 Abs. 1 SGB VI für alle Änderungen rentenrechtlicher Vorschriften gelte. Hierzu gehöre auch das ZRBG. Spezielle Neufeststellungsregelungen, die einer Anwendung des § 306 Abs. 1 SGB VI entgegenstünden, gebe es nicht. Weder enthalte das ZRBG selbst eine solche Regelung, noch ergebe sie sich aus dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG).
Schließlich könne auch nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden, die zugunsten des Betroffenen im Wege der Auslegung zu schließen wäre. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) lägen Regelungs- bzw. Gesetzeslücken nur vor, wenn das Gesetz, gemessen an der Regelungsabsicht des Gesetzgebers und der gesetzesimmanenten Zwecke,...