Entscheidungsstichwort (Thema)
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Zuständigkeitsklärung. Vorrang der Sozialhilfe gegenüber der Jugendhilfe bei Leistungen der Eingliederungshilfe im Falle von Mehrfachbehinderungen. umfassende Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers für Leistungen der Frühförderung in Niedersachsen
Leitsatz (amtlich)
1. In Niedersachsen besteht nach § 10 Abs 4 S 3 SGB 8 iVm § 17 Abs 2 nds AG KJHG (juris: KJHGAG ND) eine umfassende Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers für Leistungen der Frühförderung. Sie erfasst die Förderung durch heilpädagogische Maßnahmen jeglicher Art von Kindern in den ersten Lebensjahren, ob als Einzel- oder Komplexleistung erbracht, ob ambulant, stationär, teilstationär oder in Förderzentren.
2. Im Fall bestehender Mehrfachbehinderungen ist für die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen den Trägern der Jugend- und der Sozialhilfe nicht auf den Schwerpunkt der Behinderungen, sondern auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen abzustellen. Konkurrieren Jugendhilfeleistungen mit Maßnahmen der Eingliederungshilfe, ist nach § 10 Abs 4 S 2 SGB 8 die Sozialhilfe vorrangig, konkurrieren Jugendhilfeleistungen mit anderen Sozialhilfeleistungen, ist nach § 10 Abs 4 S 1 SGB 8 die Jugendhilfe vorrangig.
Tenor
1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 19.177,29 € zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
4. Der Streitwert wird auf 19.177,29 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin macht im Rahmen von Leistungen nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) gegen den Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch geltend.
Die Klägerin ist örtliche Trägerin der Jugendhilfe nach dem SGB VIII (§ 1 nds. AGKJHG), der Beklagte ist überörtlicher Träger der Sozialhilfe nach dem SGB XII (§ 2 nds. AGSGB XII).
Dem Rechtsstreit liegt ein Antrag des Herrn G. vom 16.04.2007 zugrunde, der bei der Klägerin für seine im Jahr 2002 geborene Tochter H. die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe nach den §§ 53 ff. SGB XII ab dem 01.08.2007 geltend machte (Bl. 2 der Verwaltungsakte). Bei I. bestand ausweislich der Stellungnahmen des Sozialpädiatrischen Zentrums des Universitätsklinikums J. vom 22.09.2006, 04.04.2007 und 23.05.2007 (Bl. A 7 ff. der Verwaltungsakte) der Verdacht auf eine emotionale Störung mit sozialer Ängstlichkeit, ein elektiver Mutismus (eine psychische Störung, bei welcher die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigt ist) und eine Fehlbildung des rechten Auges mit einhergehender Blindheit (extremer Mikrophthalmus mit Amaurose). Auch nach der sozialmedizinischen Stellungnahme des Herrn Dr. K. vom Gesundheitsamt der Stadt J. vom 21.06.2007 bestand bei dem Kind eine erhebliche Sehbehinderung, eine sprachliche Entwicklungsstörung und -verzögerung sowie eine Störung mit sozialer Ängstlichkeit (Bl. 6 ff. der Verwaltungsakte). Die Entwicklungs- und Verhaltensstörungen beeinträchtigten danach die Fähigkeit des Kindes zur Eingliederung in die Gesellschaft. Es drohe ein Zurückbleiben der geistigen Entwicklung. Als Form der Hilfe sei eine teilstationäre Betreuung durch Aufnahme in eine integrative Gruppe eines Kindergartens geeignet.
Nachdem der Fachbereich Soziales der Stadt J. den Vorgang mit Schreiben vom 03.07.2007 intern an den Fachbereich Jugend abgegeben hatte (Bl. 1 der Verwaltungsakte), bewilligte die Stadt J. sodann mit Bescheid vom 14.08.2007 die Übernahme der Kosten für die Betreuung in einer Integrationsgruppe im Kindergarten St. L. in J. (Bl. 18 f. der Verwaltungsakte). Sie führte u.a. aus, dass nach den vorliegenden Unterlagen bei I. der Bedarf einer entsprechenden Versorgung gegeben sei. Derzeit sei allerdings zwischen dem Fachbereich Soziales und dem Fachbereich Jugend die Zuständigkeit noch nicht abschließend geklärt. Bis zur abschließenden Klärung würden die Kosten entsprechend der Verpflichtung aus § 14 Abs. 2 SGB IX vom Fachbereich Jugend getragen. Ab dem 01.08.2007 bis zum 31.07.2008 besuchte das Kind den genannten vorschulischen Kindergarten. Hierbei entstanden Kosten in Höhe von insgesamt 19.177,29 €.
Mit Schreiben vom 24.09.2007 wandte sich die Klägerin sodann an den Beklagten mit der Bitte, die für die Betreuung des Kindes entstehenden Kosten zu erstatten und die Leistungen fortan selbst zu übernehmen. Zur Begründung führte sie aus, dass es sich bei der von ihr gewährten Hilfe um eine Leistung der Frühförderung handele, welche nach § 17 Abs. 2 niedersächsisches Ausführungsgesetz zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (nds. AG KJHG) Leistungen der Sozialhilfe seien (Bl. 26 der Verwaltungsakte). Mit weiterem Schreiben vom 20.12.2007 ergänzte die Klägerin ihr Vorbringen dahingehend, auch das OVG Saarlouis habe entschieden, dass jegliche Eingliederungshilfe für Kinder bis zum Schuleintritt Frühförderung sei (Beschluss vom 04.04.2007, Az.: 3 Q 73/06). Die Rechtslage im Saarland entspreche derjenigen in Niedersachsen (Bl. 46 der Verwaltungsakte).
Mit Schreiben vo...