Entscheidungsstichwort (Thema)
Eingliederungshilfe für mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche durch Kostentragung der stationären Unterbringung in einer Fachklinik mit angeschlossenem Sonderschulinternat
Leitsatz (amtlich)
1. Träger der Eingliederungshilfe für körperlich und seelische behinderte Kinder und Jugendliche (Mehrfachbehinderte) ist unabhängig vom Schwerpunkt des Bedarfs nicht der Jugendhilfeträger, sondern stets der Sozialhilfeträger.
2. Wesentlich im Sinn von § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII ist eine Behinderung, wenn sie die Gefahr birgt, den Behinderten aus der Gesellschaft auszugliedern.
3. Hilfen zur Schulbildung im Sinn von § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XII können die Internatsunterbringung eines Sonderschülers auf Kosten des Sozialhilfeträgers umfassen.
4. Angemessen im Sinn von § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII ist die Schulbildung, die zur Eingliederung des Behinderten geeignet und erforderlich ist. Solange eine ambulante Eingliederungsmaßnahme nicht gleich wirksam ist, wie eine geeignete und aus ärztlicher Sicht erforderliche stationäre Maßnahme, besteht ein Rechtsanspruch auf Gewährung der angemessenen stationären Eingliederungsleistung.
5. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII verbürgt einen Rechtsanspruch auf angemessene, nicht aber auf bestmögliche Schulbildung.
Tenor
1. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller ab Zugang des Beschlusses vorläufig und darlehensweise bis zum Abschluss des Verfahrens wegen des Bescheids vom 19. Juni 2007, längstens aber für die Dauer von sechs Monaten, Eingliederungshilfe für behinderte Menschen in Form der Übernahme der Kosten für die stationäre Unterbringung im Internat der Fachklinik W. zu gewähren.
2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
3. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwältin ... beigeordnet.
Gründe
I.
Mit dem Antrag begehrt der Antragsteller die Verpflichtung des Antragsgegners im Wege der einstweiligen Anordnung, die Kosten für seine Unterbringung in den W. Kliniken W. oder einer vergleichbaren Einrichtung zu übernehmen.
Der am … 1994 geborene Antragsteller lebt mit seinen Eltern, zwei älteren Schwestern, einem jüngeren und einem 17 Jahre alten, nach Meningitiserkrankung schwerbehinderten Bruder im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners. Die Familie stammt aus dem Kosovo.
Vom 5. Juli bis 16. August 2006 wurde der Antragsteller in der Rehabilitationsklinik für Atemwegerkrankungen, Allergien und Psychosomatik in W. (künftig: W. Klinik) stationär behandelt. Im Entlassungsbericht vom 17. August 2006 lauteten die Diagnosen für den 158 cm großen, mit 72 kg Gewicht aufgenommenen und 65 kg entlassenen Kläger:
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- Vorwiegend allergisches Asthma bronchiale, |
- Adipositas durch übermäßige Kalorienzufuhr und |
- Lese- und Rechtsschreibstörung. |
Obgleich über das Jugendamt seit 1 ½ Jahren ein pädagogischer Familienhelfer in der Familie als Betreuungs- und Bezugsperson für den häufig kranken und damit am Schulbesuch gehinderten Antragsteller tätig sei, bereite das unstrukturierte Sozial- und Schulverhalten des Antragstellers nach wie vor große Probleme. Eine schulische Förderung im stationären Rahmen, wie seitens der Klinik mit den Beteiligten diskutiert und empfohlen, sei vom Antragsteller und seinen Eltern derzeit aber noch abgelehnt worden.
Gemeinsam mit den Eltern des Antragstellers beantragten die W. Kliniken sodann am 7. März 2007 beim Antragsgegner Eingliederungshilfe für die internatsgemäße Unterbringung des Antragstellers. Zur Begründung führten sie aus: Der Antragsteller sei von klein auf erkrankt und behindert. Er leide an allergischem Asthma bronchiale, Adipositas durch übermäßige Kalorienzufuhr und einer Lese- und Rechtschreibstörung. Durch die Atemwegserkrankung sei er wesentlich körperbehindert und chronisch krank. Infolge dessen komme es bei ihm zu häufigen Schulausfällen und einer Gefährdung der Schullaufbahn.
Dem Antrag lag eine ärztliche Beurteilung der gesundheitlichen Situation/Behinderung durch den Kinder- und Jugendarzt Dr. S. vom 5. März 2007 bei, mit der dieser für den damals 157,5 cm großen und 71,6 kg schweren Antragsteller folgende Diagnosen stellte:
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- Seit klein auf vorwiegend allergisches Asthma bronchiale, |
- Adipositas (BMI 29,1), |
- Lese- und Rechtsschreibstörung, |
- Schwierige familiäre Situation, |
- Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen und |
- Zustand nach Enuresis diurna/nocturna. |
Fehlende Compliance im häuslichen Umfeld führe zur Instabilität der chronischen Erkrankung; außerdem leide er in der häuslichen Umgebung unter Rauch (Vater rauche in der Wohnung) und Hausstaubmilben (keine allergiegerechte Wohnung). Hinzu kämen Defizite im Familien- und Gruppenverhalten; in Gruppen Gleichaltriger sei der Antragsteller Außenseiter, der sich oft in Randgruppen (Alkoholiker, Arbeitslose) bewege und sich nur schwer an Strukturen halten könne. Eine Schulkasse habe er wiederholen müssen und besuche jetzt eine Förderschule. Auch hier seien die ...