Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziale Pflegeversicherung. Feststellung von Pflegebedürftigkeit. Berücksichtigung der Richtlinien nach § 17 SGB 11. Bindungswirkung auch im Außenverhältnis. Pflegebedürftige mit besonderen Bedarfskonstellationen iSd § 15 Abs 4 SGB 11. Beschränkung auf sehr seltene Konstellationen. bisher nur die Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine von der Begutachtungs-Richtlinie umfasst. weitere Ergänzung und Ausfüllung möglich

 

Orientierungssatz

1. Bei den Richtlinien nach § 17 SGB 11 handelt es sich um Verwaltungsvorschriften. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG sind die Richtlinien bei der Feststellung des Pflegebedarfes zu berücksichtigen - soweit sie sich im Rahmen höherrangigen Rechts halten -. Ihnen kommt eine gewisse Bindungswirkung auch im Außenverhältnis zu den Versicherten zu, indem sie als Konkretisierung des Gesetzes zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen zu beachten sind; den Richtlinien kommt insoweit über den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG Bindungswirkung zu, zumal sich die Verwaltungspraxis an ihnen orientiert (vgl BSG vom 28.9.2017 - B 3 P 3/16 R = juris RdNr 22).

2. Nach dem gesetzgeberischen Willen sollten unter § 15 Abs 4 SGB 11 Pflegebedürftige mit schwersten Beeinträchtigungen und einem außergewöhnlich hohen bzw intensiven Hilfebedarf, der besondere Anforderungen an die pflegerische Versorgung aufweise, berücksichtigt werden. Dass nach der Begutachtungs-Richtlinie derzeit gestützt auf die Ergebnisse des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs nur die Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine umfasst sind, begegnet keinen durchgreifenden Bedenken des Gerichts. Denn die Aufnahme weiterer Bedarfskonstellationen ist möglich, so dass der auf sehr seltene Konstellationen zu beschränkende § 15 Abs 4 SGB 11 durch die weitere Ergänzung der Begutachtungs-Richtlinie nach § 17 Abs 1 SGB 11 noch weiter ausgefüllt werden kann, sofern ein dahingehender Bedarf im weiteren Verlauf durch die medizinische Beurteilung erkannt wird.

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 5 ab Juni 2017.

Die … 1976 geborene Klägerin ist von Geburt an schwerbehindert aufgrund einer Entwicklungsstörung infolge eines hypoxischen Hirnschadens während der Geburt, woraus unter anderem eine geistige Behinderung und Sprachstörung resultiert. Sie wird von ihrer Mutter als Betreuerin vertreten (Betreuerausweis des Amtsgerichts …, Betreuungsgericht, vom …). Die Klägerin bezieht bislang Leistungen von der Beklagten nach dem Pflegegrad 4.

Die Klägerin beantragte am 14. Juni 2017 bei der Beklagten die Höherstufung nach Pflegegrad 5. Die Beklagte ließ die Klägerin durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) begutachten. Die Pflegefachkraft A. gelangte in dem Gutachten vom 13. Oktober 2017 zu dem Ergebnis, dass die Klägerin bei der Beurteilung ihrer Pflegebedürftigkeit 72,50 gewichtete Punkte erreiche und damit die Voraussetzungen für den Pflegegrad 4 erreicht seien (Mobilität: 2,5 Punkte; kognitive und kommunikative Fähigkeiten und Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: 15 Punkte; Selbstversorgung: 40 Punkte; Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen: 0 Punkte; Gestaltung des Arbeitslebens und sozialer Kontakte: 15 Punkte).

Mit Bescheid vom 16. Oktober 2017 lehnte die Beklagte die Bewilligung eines höheren Pflegegrades deshalb ab. Die erforderlichen Voraussetzungen für eine Erhöhung des Pflegegrades lägen nicht vor. Es verbleibe bei der bisherigen Einstufung in den Pflegegrad 4.

Hiergegen erhob die Betreuerin der Klägerin Widerspruch. Die Punktevergabe sei unzutreffend. Nach ihrer Einschätzung ergebe die Modulbewertung einen Punktewert von insgesamt 104,50 Punkten. Hierzu trug sie im Einzelnen vor, welche Hilfebedarfe in den Modulen unzureichend berücksichtigt worden seien. Im Modul 2 sei das Verstehen von Alltagsanforderungen mit unselbstständig zu bewerten. Bei dem Modul 3 sei die nächtliche Unruhe, das Beschädigen von Gegenständen, das aggressive Verhalten gegenüber anderen Personen, die Wahnvorstellungen, die Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage, die sozial inadäquaten Verhaltensweisen und die sonstigen pflegrelevanten inadäquaten Handlungen falsch und zu niedrig berücksichtigt. Bei der Selbstversorgung (Modul 4) sei unberücksichtigt, dass die Klägerin sich keinesfalls waschen sowie an- und auskleiden könne. Sie müsse ihre Tochter im Sommer auch oft pudern bzw. eincremen; zudem müsse die Klägerin bettfertig gemacht und zu Bett gebracht werden.

Die Beklagte holte ein weiteres Gutachten nach Aktenlage bei dem MDK ein. Die Pflegefachkraft F. bestätigte in ihrem Gutachten vom 02. Januar 2018 das Ergebnis des Vorgutachtens und bewertete den Hilfebedarf ebenfalls mit 72,50 gewichteten Punkten.

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