Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen H. Hilflosigkeit. keine generelle Entziehung des Merkzeichens bei Volljährigkeit. Prüfung der für Erwachsene geltenden Grundsätze. Hilfebedarf. Rechtsänderung. neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff. täglicher Zeitaufwand von 2 Stunden nicht mehr maßgeblich. schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten ausreichend
Orientierungssatz
1. Die Volljährigkeit führt nicht zur Entziehung des Merkzeichens H (Hilflosigkeit), wenn auch nach den für die Erwachsenen geltenden Grundsätzen weiterhin das Merkzeichen H anzuerkennen ist.
2. Zwar konnte nach alter Rechtslage eine "Reihe von Verrichtungen" regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt, die ein Hilfebedarf in erheblichen Umfang erforderlich machen und dies einen täglichen Aufwand von 2 Stunden erfordert. Aufgrund der Änderung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs zum 1.1.2017 kann nunmehr aber nicht mehr auf einen täglichen Zeitaufwand bei den einzelnen Verrichtungen abgestellt werden, da der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in § 14 SGB 11 allein auf die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten abstellt, die für die eigenständige Bewältigung von Aktivitäten des täglichen Lebens notwendig sind.
3. Insoweit hindert auch ein grundpflegerischer Bedarf von nur 49 Minuten täglich nicht die Zuerkennung des Merkzeichens H, wenn eine schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten gegeben ist (hier: Pflegegrad 3 bei Trisomie 21).
Tenor
1. Der Bescheid vom 6. April in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2018 wird insoweit aufgehoben, soweit das Merkzeichen „H“ entzogen worden ist.
2. Der Beklagte erstattet der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte des Merkzeichen „H“ (Hilflosigkeit) zu Recht nach Vollendung des 18. Lebensjahres der Klägerin entzogen hat.
Die 1999 geborene Klägerin leidet unter Trisomie 21 (Down-Syndrom). Ein zum Krankheitsbild gehörender Herzfehler ist unmittelbar nach der Geburt operiert worden. Bei ihr war zunächst die Pflegestufe I sowie eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz seit September 2001 anerkannt. Im Rahmen einer Nachbegutachtung am 18. Januar 2012 wurde ein grundpflegerischer Hilfebedarf von 49 Minuten und ein hauswirtschaftlicher Hilfebedarf von 60 Minuten festgestellt. Mit Wirkung vom 1. Januar 2017 wurde die Klägerin in den Pflegegrad 3 übergeleitet (§ 140 Abs. 2 Nr. 2 b SGB XI).
Das (damalige) Versorgungsamt Karlsruhe hatte nach Beiziehung von ärztlichen Befundunterlagen und Anhörung des versorgungsärztlichen Dienstes bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Nachteilsausgleiche „G“ (Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), „B“ (Ständige Begleitung“) und „H“ festgestellt.
Im April 2017 leitete das LRA ein Nachprüfungsverfahren ein. Es zog eine Stellungnahme der G.- schule E. sowie das Pflegegutachten des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 28. November 2014, Befundunterlagen bei dem behandelnden Kinderarzt Dr. S. und der Allgemeinmedizinerin Dr. D. bei und hörte seinen versorgungsärztlichen Dienst an, der weiterhin für das Vorliegen der Trisomie 21 und des operierten Herzfehlers einen GdB von 100 berücksichtigte. Hingegen entfalle das Merkzeichen „H“ wegen Vollendung des 18. Lebensjahres.
Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Entziehung des Merkzeichens „H“ führten die Eltern der Klägerin im Wesentlichen aus, die Klägerin benötige weiterhin bei normalen Alltagsdingen Unterstützung, weshalb sie trotz ihrer Volljährigkeit hilfsbedürftig sei. Die Trisomie 21 wirke sich im Alltag massiv aus. Sie legten ihrer Begründung ein ärztliches Attest der Hausärztin D. vom 6. März 2018 bei, wonach die Klägerin infolge ihrer Behinderung auf Hilfestellung durch Dritte angewiesen sei. Dies umfasse insbesondere die Bereiche Erfassen der Umwelt, Überwachung und Gestaltung diätetischer Maßnahmen bei zusätzlich bestehender Zöliakie, Unterstützung bei der Körperpflege und beim Ankleiden. Zudem legten sie den Entwicklungsbericht der G.-schule E. vom 13. März 2018 vor.
Der versorgungsärztliche Dienst führte nach erneuter Anhörung aus, von einer Hilflosigkeit sei bei der jetzt 18-Jährigen auch unter Würdigung der zusätzlich vorgelegten Befundberichte nicht mehr auszugehen.
Deshalb hob das LRA mit Bescheid vom 6. April 2018 den Bescheid vom 28. Oktober 1999 insoweit auf, als die Voraussetzungen für die Feststellung des gesundheitlichen Merkmals „H“ ab 12. April 2018 nicht mehr vorlägen. Der GdB betrage weiterhin 100.
Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und führte zur Begründung aus, die Voraussetzungen für das Merkzeichen „H“ lägen weiterhin vor. Aufgrund eines mangelnden Zeitgefühl sei eine ständige Anleitung durch den Tag, eine strenge Überwachung bei dem An- und Auskleiden sowie der Nahrungsaufnahme erforderlic...