Entscheidungsstichwort (Thema)
Entziehung des Merkzeichens "H" bei Erreichen der Volljährigkeit des Begünstigten
Orientierungssatz
1. Ist einem Kind im Alter von acht Jahren aufgrund dessen behinderungsbedingtem Fremdhilfebedarf das Merkzeichen H zuerkannt worden, so führt das Erreichen der Volljährigkeit dazu, dass die in Teil A Nr. 5 der Beweisvorgaben für die Festsetzung von Merkzeichen (VMG) geregelten "Besonderheiten der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen" nicht mehr zu berücksichtigen sind.
2. Mit Eintritt der Volljährigkeit sind die allgemeinen gesetzlichen Vorschriften, insbesondere § 33b Abs. 6 S. 3 und 4 EStG und Teil A Nr. 4 VMG zum Nachteilsausgleich H anzuwenden.
3. Bei einem Gesamthilfebedarf von täglich 32 Minuten wird der für die Anerkennung des Merkzeichens H erforderliche Hilfebedarf nicht mehr erreicht. Aufgrund dessen wesentlicher Änderung ist das Merkzeichen H nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB 10 zu erreichen.
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 19.07.2018 geändert und die Klage abgewiesen. Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte das Merkzeichen H (Hilflosigkeit) zu Recht entzogen hat.
Die am 00.00.1994 geborene Klägerin leidet unter einer kombinierten umschriebenen Entwicklungsstörung (F83 ICD-10 GM) sowie einer leichten Intelligenzminderung (F70 ICD-10 GM). Bei der Klägerin war zunächst die Pflegestufe I und zwischenzeitlich die Pflegestufe II anerkannt. Später stellte der MDK unter dem 16.02.2015 einen täglichen Grundhilfebedarf von 74 Minuten fest. Mit Wirkung vom 01.01.2017 wurde die Klägerin in den Pflegegrad 2 übergeleitet (§ 140 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1a) SGB XI).
Das (damalige) Versorgungsamt C hatte nach Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte/Therapeuten und einer gutachtlichen Stellungnahme sowie Beiziehung eines Pflegegutachtens des MDK vom 06.12.2001 (Grundhilfebedarf: 67 Minuten täglich) bei der Klägerin einen GdB von 80 sowie die Nachteilausgleiche G, B und H festgestellt (Bescheid vom 26.07.2002). Nachprüfungsverfahren in den Jahren 2004 und 2009 führten zur Bestätigung dieser Feststellungen.
Im Februar 2014 leitete der Beklagte ein weiteres Nachprüfungsverfahren ein. Die Klägerin legte eine Schulbescheinigung, Zeugnisse sowie Entlassungsberichte über stationäre Behandlungen vor. Der Beklagte zog ein Pflegegutachten des MDK vom 24.02.2012 bei (Grundhilfebedarf: 79 Minuten täglich). Eine gutachtliche Stellungnahme vom 01.04.2014 ging unter Erhebung der Diagnose "psychomotorische Entwicklungsverzögerung" weiterhin von einem GdB von 80 aus. Ein behinderungsbedingter Fremdhilfebedarf liege nicht mehr vor, weil die altersbedingte Hilfsbedürftigkeit nicht mehr in erheblichem Umfang überschritten werde.
Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Entziehung des Merkzeichens H verwies die Klägerin u.a. auf ein im Betreuungsverfahren erstattetes neurologisch-psychiatrische Gutachten vom 01.12.2011. Die Klägerin vertrat die Auffassung, dass sie auch als Erwachsene die umfassende Unterstützung einer Betreuungsperson bei den gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Alltag benötige. Ihre Eltern seien ständig in Bereitschaft, sie zu Alltagsaufgaben anzuleiten und sie zu verschiedensten Terminen zu begleiten (Ärzte, Therapeuten, Sport). Da sie sehr zutraulich sei, bestehe die Gefahr, dass sie mit fremden Leuten mitgehe.
In einer weiteren gutachtlichen Stellungnahme vom 06.05.2014 wird ausgeführt: Nach Erreichen der Volljährigkeit seien für die Anerkennung von Hilflosigkeit andere Kriterien maßgebend als für Kinder. Der zeitliche Umfang der notwendigen Hilfen bei den häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen erreiche nach aktenkundiger Befundlage nicht das für die Anerkennung des Merkzeichens H erforderliche Ausmaß. Ein behinderungsbedingter Fremdhilfebedarf liege nicht mehr vor, weil die altersbedingte Hilfsbedürftigkeit nicht mehr in erheblichem Umfang überschritten werde. Der Beklagte holte ferner einen Befundbericht von der Fachärztin für Neurologie/Palliativmedizin I vom 16.05.2014 ein. Diese benannte als Diagnosen eine Feinmotorikstörung und eine Muskeltonusstörung sowie eine mentale Retardierung bei Balkenagenesie. Die komplexe Handlungsplanung sei erschwert. Eine weitere gutachtliche Stellungnahme vom 31.05.2014 blieb bei der bisherigen Beurteilung.
Im Rahmen einer weiteren Anhörung trug die Klägerin vor, sie benötige nach wie vor umfassende Hilfe bei Körperpflege, Ernährung und Mobilität. Sie leide unter einer erheblichen geistigen Behinderung und könne weder lesen noch schreiben. Ihr Orientierungssinn sei nahezu aufgehoben. Ohne Begleitung könne sie nicht Bus fahren. Zu Freizeitaktivitäten, Arztbesuchen usw. müsse sie begleitet werden. Selbst das Herausholen der Post aus dem Briefkasten bedürfe der Beaufsichtigung. Sonst könne es passieren, dass sie nicht mehr wisse, dass sie die Post ...