Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Kindergeld. Kindergeld für sich selbst. Nichtkenntnis des Aufenthalts der Eltern. geflüchtetes Kind. Mutter in Afghanistan. Erreichbarkeit über Telefon. Verheimlichung des Aufenthalts wegen Verfolgungsgefahr durch Taliban
Orientierungssatz
Eine missbräuchliche Unkenntnis über den Aufenthalt der Mutter (vgl § 1 Abs 2 S 1 Nr 2 Alt 2 BKGG 1996) kann zu verneinen sein, wenn das Kind die Mutter im Ausland nicht selbst erreichen kann und diese bei ihren seltenen Anrufen nichts über ihren Aufenthalt preisgibt (hier: wegen der Gefahr einer Verfolgung durch Taliban in Afghanistan).
Nachgehend
Tenor
Der Bescheid vom 5.2.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.3.2020 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab Dezember 2019 Kindergeld in gesetzlichem Umfang zu gewähren.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Kindergeld an sich selbst.
Der 1998 in Afghanistan geborene Kläger beantragte bei der Beklagten am 23.12.2019 Kindergeld für sich selbst. Dazu gab er an, über eine Duldung (Aussetzung der Abschiebung) zu verfügen und sich seit Mai 2018 in einer zweijährigen Ausbildung zur Fachkraft in der Gastronomie zu befinden. Dazu legte er den Berufsausbildungsvertrag mit dem Hotel B. in A-Stadt vor. Der Kläger erklärte, sein Vater sei in 2015 in Afghanistan verstorben. Der Kläger habe im Juli 2015 Afghanistan allein und ohne Eltern verlassen und habe seitdem keinen Kontakt zur Mutter gehabt. Es gebe keine Kontaktmöglichkeiten von Deutschland nach Afghanistan.
Den Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5.2.2020 mit der Begründung ab, der Kläger habe keine Bemühungen dargelegt, den Aufenthalt der Eltern zu ermitteln.
Mit Schreiben vom 20.2.2020 legte der Kläger Widerspruch ein und machte geltend, vor seiner Flucht aus Afghanistan habe er in der Provinz Kabul, Distrikt Paghmann im Dorf C-Stadt bis Juli 2015 mit seinen Eltern H. und M. A. Sein Vater sei Polizeibeamter und Fahrer des örtlichen Polizeikommandanten gewesen und er sei von den Taliban ermordet worden. Diese hätten Drohbriefe geschickt und nach ihm gesucht, um ihn zu rekrutieren und er habe deshalb das Land verlassen müssen, um sein Leben zu retten. Seine Mutter habe ebenfalls das Dorf verlassen und sei zu ihrem Bruder S. nach Kabul gezogen. Die Adresse dort sei Kabul, Ghahar Rahe, D-Stadt gewesen. Nur selten bestehe die Möglichkeit, mit ihr telefonisch Kontakt aufzunehmen. Wegen der Bedrohung durch die Taliban sage sie nicht den wahren Aufenthaltsort. Das Gespräch sei sehr einseitig und sie frage nur, wie es ihm gehe. Ein Aufgebotsverfahren nach § 19 VerschG müsse an das Amtsgericht Berlin-Schöneberg gestellt werden. Dies sei ein kompliziertes und langwieriges Verfahren. Die Anforderungen der Beklagten an den Bezug von Kindergeld seien zu hoch angesetzt.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19.3.2020 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Dazu führte sie aus, gemäß § 1 Abs. 2 BKGG erhalte Kindergeld für sich selbst, wer in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe, Vollwaise sei oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kenne und nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen sei. Berücksichtigt würden also Vollwaisen und Kinder, die den Aufenthalt ihrer Eltern nicht kennen würden. Dem Tod der Eltern sei die Unkenntnis des Kindes von Ihrem Aufenthalt gleichgestellt. Die Unkenntnis des Aufenthalts der Eltern sei nach den subjektiven Maßstäben des Kindes zu beurteilen (Bundessozialgericht -BSG- Urteil vom 8. April 1992,10 RKg 12/91, DBIR3929 BKGG/§ 1). Sei kein Aufgebotsverfahren zum Zwecke einer Todeserklärung beantragt oder kein Aufgebot erlassen worden, müsse zumindest unterstellt werden können, dass das Kind es nicht grob fahrlässig oder vorsätzlich unterlassen habe, Hinweisen auf den Aufenthalt seiner Eltern nachzugehen. Vom Kind seien daher zumindest die Umstände der Trennung von seinen Eltern sowie eigene oder fremde Bemühungen zur Ermittlung ihres Aufenthaltsortes und Anhaltspunkte für eine Verschollenheit darzulegen und diese Erklärungen möglichst durch Geschwister oder sonstige Verwandte zu bestätigen. Die Voraussetzungen zur Berücksichtigung des Klägers als Vollwaise würden nicht vorliegen. Der Gesetzgeber habe unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Kindergeldes und von gesetzessystematischen Bedenken eine eng begrenzte Ausnahmeregelung unter Härtegesichtspunkten schaffen und Kindergeld für sich selbst nur einem entsprechend eng begrenzten Personenkreis zukommen lassen wollen (BT-DrS.10/2563, Seite 3). Die letztlich beschlossene Gesetzesfassung gehe allerdings über die Beschlussvorlage hinaus, indem die hier allein in Betracht kommende Variante der Unkenntnis des Aufenthaltes der Eltern eingefügt worden sei. Mit der gesetzlichen Regelung habe kein Anspruch auf Kindergeld für sich selbst für den F...