Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Rentenversicherung: Rente wegen Erwerbsminderung. Anforderungen an die rückschauende Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsminderung bei einer Erkrankung auf psychiatrischem Gebiet
Orientierungssatz
1. Bei der rückschauenden Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsminderung ist bei einer Erkrankung auf psychiatrischem Gebiet eine Bestätigung der Erwerbsminderung nicht möglich, wenn für den maßgeblichen Zeitraum in der Vergangenheit sowohl eine persönliche Begegnung des Gutachters mit dem Probanden unter Einschluss eines explorierenden Gesprächs fehlt als auch ein entsprechender Fremdbefund und auch regelmäßige ärztliche Behandlungen nicht stattgefunden hatten.
2. Einzelfall zum Fehlen der versicherungsrechtlichen Voraussetzung einer Erwerbsminderungsrente und zur rückschauenden Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsminderung wegen einer psychischen Erkrankung.
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1955 in Marokko geborene Kläger absolvierte eine Ausbildung zum Lehrer und war für drei Jahre in diesem Beruf tätig. Er flüchtete 1980 als politischer Aktivist nach Deutschland, der Asylantrag wurde 1984 genehmigt. In Deutschland arbeitete der Kläger nach Anerkennung des Asyls circa 3 Jahre als Lagerarbeiter in einem Lebensmittelgroßhandel, daraufhin ein Jahr als Eisenbieger. Zuletzt war er bis zum 23.10.1992 in einem Supermarkt als Arbeiter beschäftigt. Bis zu einem durch ihn begangenem Tötungsdelikt im Jahr 2001 bezog der Kläger Arbeitslosenhilfe. 2002 wurde er zu einer Haftstrafe von 12 Jahren verurteilt.
Aus dem Versicherungsverlauf folgt, dass der Kläger bis zum 30.04.2003 zuletzt wegen des Bezuges von Entgeltersatzleistungen Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung zahlte.
Der Kläger beantragte am 10.11.2011 bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Mit Bescheid vom 02.12.2011 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da der Kläger in den letzten fünf Jahren vor der Rentenantragstellung keine drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit habe und auch keine Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten sei, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt sei.
Hiergegen legte der Kläger am 23.12.2011 Widerspruch ein.
Laut Stellungnahme des medizinischen Sachverständigen nach Aktenlage, Dr. C., vom 04.07.2012 liegen bei dem Kläger die folgenden Gesundheitsbeeinträchtigungen vor:
1. Dissoziale Persönlichkeitsstörung im Rahmen einer langjährigen Inhaftierung
2. Prostatahyperplasie
3. Hämorrhoidalleiden I. Grades.
Im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung stellte der Gutachter fest, dass der Kläger mittelschwere Arbeiten sechs Stunden und mehr mit Einschränkungen verrichten könne.
Der Widerspruch ist mit Widerspruchsbescheid vom 25.09.2012 zurückgewiesen worden.
Hiergegen hat der Kläger am 12.10.2012 Klage vor dem Sozialgericht Marburg erhoben.
Mit Verweisungsbeschluss vom 17.12.2012 ist der Rechtsstreit an das örtlich zuständige Sozialgericht Kassel verwiesen worden.
Der Kläger ist im Wesentlichen der Ansicht, er sei bereits seit seiner Inhaftierung im Jahr 2002 erwerbsgemindert.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 02.12.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm auf seinen Antrag vom 10.11.2011 eine Rente wegen Erwerbsminderung in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte vertritt im Wesentlichen die Auffassung, für eine Rente wegen Erwerbsminderung seien weder die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch die medizinischen Voraussetzungen erfüllt. Im maßgeblichen Zeitraum vom 10.11.2006 bis 09.11.2011 habe der Kläger keine Pflichtbeiträge.
Das Gericht hat bei den behandelnden Ärzten des Klägers Befundberichte von Amts wegen sowie ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten bei Dr. D. nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholt. In seinem Gutachten vom 27.10.2013 diagnostizierte Dr. D. aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 11.10.2013 die folgenden Gesundheitsbeeinträchtigungen:
1. Schizotype Persönlichkeitsstörung mit schizoid-paranoiden und antisozialen Anteilen, leichte kognitive Störungen
2. Zustand nach Drogen-Abhängigkeit 1990 bis 2001 mit Dealen (Heroin, Kokain)
3. Zustand nach Verdacht auf Drogenpsychose 1975 in Marokko mit Psychiatrie-Aufenthalt bei übermäßigem Hasch-Konsum
4. Vorübergehende psychotische Störung
5. Schizotype Persönlichkeitsstörung mit emotionalen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten und aufgehobener individueller Belastbarkeit und Kompensationsfähigkeit der Struktur
6. Leichtgradige obstruktive Lungenfunktionsstörung
7. Zustand nach Prostata-OP in 2009 mit leichtgradiger Inkontinenz (Vorlage)
8. Zustand nach Tbc-Erkrankung 1983.
Im Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung stellte der Gutachter fest, dass der Kläger lei...