Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht oder bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Überbrückungsleistungen. Härtefallregelung
Orientierungssatz
Eine zeitlich befristete Bedarfslage im Sinne des § 23 Abs 3 S 6 SGB 12 kann insbesondere dann gegeben sein, wenn die Erlangung eines Daueraufenthaltsrechts unmittelbar bevorsteht und die zuständige Ausländerbehörde zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise den Versuch unternommen hat, ein Verfahren zur Feststellung des Verlusts des Rechts nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU 2004 einzuleiten.
Tenor
1. Der Bescheid vom 10. November 2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. März 2017 wird über das angenommene Teilanerkenntnis des Beklagten hinaus aufgehoben und der Beklagte verurteilt, den Klägern im gesetzlichen Umfang Leistungen nach dem 3. Kapitel des Sozialgesetzbuches - Sozialhilfe (SGB XII) auch noch für die Zeit vom 1. Februar bis 31. März 2017 zu gewähren.
2. Die Beklagte hat den Klägern die Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.
3. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist im Anschluss an ein den Zeitraum vom 1. November 2016 bis 31. Januar 2017 in der mündlichen Verhandlung vom Beklagten abgegebenes und den Klägern angenommenes Teilanerkenntnis die Gewährung von Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII allein noch für die Zeit vom 1. November 2016 bis 31. März 2017 im Streit.
Der 1992 geborene Kläger zu 1), die 1994 geborene Klägerin zu 2), der 2014 in A-Stadt geborene Kläger zu 3) und der im September 2016 geborene Kläger zu 4) sind bulgarische Staatsangehörige. Die Kläger zu 3) und 4) sind die gemeinsamen Kinder der Kläger zu 1) und 2), die nach Aktenlage seit April 2012 in der Bundesrepublik Deutschland leben, zunächst nicht miteinander verheiratet waren, dies jedoch zwischenzeitlich seit dem 1. März 2017 sind. Sie bilden zusammen als Bedarfsgemeinschaft eine Haushalts- und Erziehungsgemeinschaft, wobei sich der Kläger zu 1) zwischen Dezember 2015 und April 2016 sozialversicherungspflichtig in Arbeit befand, dann betriebsbedingt gekündigt worden war und schließlich bis zum 21. Oktober 2016 nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) vom Jobcenter des Landkreises Kassel befristet Arbeitslosengeld (ALG) II bezog. Die Befristung beruhte auf § 2 Abs. 3 Satz 2 Freizügigkeitsgesetz EU (FreizügG/EU), nachdem der Kläger zu 1) weniger als ein Jahr beschäftigt gewesen ist. Auch die Klägerin zu 2) und die Kläger zu 3) und 4) hatten insoweit ALG II bezogen.
Im Hinblick auf das Auslaufen der ALG-II-Leistungsgewährung beantragten die Kläger dann am 7./8. November 2016 beim Beklagten als für ihren damaligen Wohnort in F-Stadt zuständigem Sozialhilfeträger Sozialhilfe nach dem SGB XII, wobei sich dann jedoch noch vor Rücklauf des am 7. November 2016 ausgehändigten Antragsvordruckes ohne erkennbare Einzelfallprüfung ein Aktenvermerk der zuständigen Sachbearbeitung vom selben Tag fand, wonach der Antrag abgelehnt werden müsse. Dies erfolgte dann gegenüber den Klägern auch unmittelbar folgend mit Bescheid vom 10. November 2016. Die Kläger seien nicht anspruchsberechtigt. Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, hätten nach § 23 Abs. 2 SGB XII keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Die Kläger zu 1) und 2) seien zudem erwerbsfähig und auch von daher bereits nach § 21 SGB XII von Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII ausgeschlossen. Insoweit bilde der Begriff der Erwerbsfähigkeit ein wesentliches Abgrenzungskriterium zwischen den Leistungssystemen des SGB II und des SGB XII, wobei der Beklagte hierzu auf einen Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts (HLSG) vom 22. Mai 2015 Bezug nahm, eine Auseinandersetzung mit den - vom Beklagten nach Aktenlage ohne Einzelfallprüfung generell abgelehnten - Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) u.a. vom 3. Dezember 2015, B 4 AS 44/15 R und vom 16. Dezember 2015, B 14 AS 15/14 R selbst jedoch nicht erfolgte.
Hierauf machten die Kläger mit Eingang beim Sozialgericht Kassel vom 17. November 2016 unter dem Az. S 12 SO 38/16 ER durch ihre Prozessbevollmächtigte u.a. unter Hinweis auf diese Rechtsprechung die beantragte Leistungsgewährung im einstweiligen Rechtsschutz geltend. Gleichzeitigen legten sie mit Schriftsatz vom selben Tag gegen den Bescheid vom 10. November 2016 beim Beklagten Widerspruch ein.
Die Kläger führten aus, sie hätten einen Anspruch auf Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII analog. Lege man die vorgenannte Rechtsprechung des BSG sowie die noch aktuelle Beschlusslage des 6. Senats des HLSG zugrunde, folge dies aus dem Umstand, dass die Kläger zu 1) bis 3) einen verfestigten Aufenthalt in Deutschland hätten, da sie schon länger als sechs Monate hier lebten. Der Kläger zu 4) sei als Familienangehöriger ebenfalls Aufenthaltsberechtigter. Die Beschlusslage des 9. Senats des HLSG, u.a. Beschluss vom 26. September 2016, L 9 AS 643/16 B E...