Entscheidungsstichwort (Thema)
Opferentschädigung: Zeitpunkt der erstmaligen Leistungsgewährung. Voraussetzung der rückwirkenden Gewährung einer Entschädigungsrente ab dem Tatzeitpunkt. Zurechnung des Verhaltens eines Erziehungsberechtigten bei einem minderjährigen Kind als Antragsteller. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch auf rückwirkende Leistungsgewährung bei unterlassener Beratung zur Opferentschädigung durch das Jugendamt
Orientierungssatz
1. Eine Entschädigungsrente nach dem Opferentschädigungsgesetz kann ausnahmsweise dann rückwirkend für Zeiten vor der Stellung eines Entschädigungsantrags gestellt werden, wenn der Betroffene aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen an einer rechtzeitigen Antragstellung gehindert war und damit die Verzögerung nicht verschuldet hat. Dabei sind zur Beurteilung der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit des Betroffenen zu berücksichtigen. Ist das Opfer ein Minderjähriger, ist für die Beurteilung des Vorliegens eines Verschuldens auf den gesetzlichen Vertreter abzustellen.
2. Auch bei einem aus dem Ausland stammenden aber in Deutschland lebenden Vater eines minderjährigen Kindes, das Opfer eines Gewaltdelikts geworden ist, stellt ein nicht rechtzeitig gestellter Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Opferentschädigung für das Kind ein Verschulden dar, das einer rückwirkenden Leistungsgewährung ab dem Tatzeitpunkt entgegen steht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Vater keine eigenen Bemühungen unternommen hat, um Hilfe oder Beratungen zu möglichen Opferentschädigungsansprüchen seines Kindes zu erlangen.
3. Die fehlende Beratung eines Jugendamtes über mögliche Ansprüche auf Opferentschädigung nach einer gegen ein minderjähriges Kind gerichteten Straftat begründet keinen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auf rückwirkende Gewährung von Leistungen aus der Opferentschädigung.
Nachgehend
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Versorgungsbezügen für zurückliegende Zeiträume nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die Klägerin wurde am 19.10.1995 in Euskirchen als Tochter der zairischen Asylbewerber N1 (geb. 00.00.0000) und O (geb. 00.00.0000) geboren. Die Mutter leidet an einer Erkrankung des schizophrenen Formenkreises. Die Vormundschaft über die Klägerin wurde in der Zeit vom 15.10.1995 bis 11.04.1996 von dem Kreisjugendamt Euskirchen und in der Zeit vom 11.04.1996 bis 16.01.2003 vom dem leiblichen Vater ausgeübt. In der Zeit vom 16.01.2003 bis 03.05.2005 war die elterliche Sorge der Kindesmutter übertragen, welches ihr durch Beschluss des Amtsgerichtes Rheinbach vom 18.10.2005 entzogen wurde. Bereits am 03.05.2005 war das Jugendamt der Stadt Meckenheim, Bereich Kinder, Jugend und Familie, vom Amtsvormund bestellt worden. Mit Beschluss des Amtsgerichts Düren vom 05.10.2011 wurde die elterliche Sorge für die Klägerin erneut dem Vater übertragen und die Amtsvormundschaft der Stadt Meckenheim aufgehoben.
Am 03.01.1997 wurde die Klägerin im Alter von 15 Monaten von ihrer Mutter körperlich schwer misshandelt, so dass eine Krankenhausbehandlung erforderlich wurde. Ein Antrag nach dem OEG wurde durch den damaligen Amtsvormund, das Jugendamt der Stadt Meckenheim, bei dem damals zuständigen Versorgungsamt Köln am 29.07.2005 gestellt. Durch Bescheid des beklagten Landschaftsverbandes Rheinland (als Funktionsnachfolger der Versorgungsverwaltung) vom 20.06.2008 wurde wegen der gesundheitlichen Folgen des schädigenden Ereignisses vom 03.01.1997 für die Zeit ab Juli 2005 ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 40 wegen folgender Gesundheitsstörungen anerkannt:
1. Hirnschädigung nach Schädelfraktur parasagittal frontal links mit kleiner Gehirnkontusion rechts frontolateral und Subarachnoidalblutung 1997.
2. Sehminderung, Gesichtsfeldausfälle rechtes Auge, Erblindung linkes Auge, operiertes Innenschielen linkes Auge.
Hiergegen erhob die Stadt Meckenheim am 02.07.2008 Widerspruch mit dem Begehren einer rückwirkenden Leistungserbringung ab 1997. Zur Begründung führte die Stadt aus, die Beschädigte sei als Kleinkind ohne ihr Verschulden an der Antragstellung verhindert gewesen. Da die Mutter gleichzeitig die Täterin und der deutschen Sprache nicht mächtig gewesen sei, habe verständlicherweise kein Interesse daran bestanden, einen Antrag nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG zu stellen. Die Eltern hätten in einem Interessenkonflikt gestanden. Dies sei insbesondere anzunehmen, wenn es den persönlichen Interessen der Eltern zuwider laufe, an der vollständigen Aufdeckung des Tatgeschehens mitzuwirken; sei es, dass dabei auch eine Vernachlässigung einer elterlichen Aufsichts- und Fürsorgepflicht ans Licht kommen könne, sei es, weil ein entsprechendes Vorgehen, insbesondere auch eine Antragstellung nach dem OEG zum Bruch der ihnen wichtigen Beziehung hätte ...