Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts. grob fahrlässige unrichtige Angaben. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Vermögensberücksichtigung. Verschweigen eines Sparkassenbriefs. Erstattung. Berechnung eines fiktiven Vermögensverbrauchs. keine Mehrfachanrechnung. Beschränkung der Minderjährigenhaftung
Leitsatz (amtlich)
Bei der Rücknahme von Bewilligungsbescheiden (hier: SGB 2) wegen verschwiegenem Vermögen ist rückschauend zu prüfen, ob und wie lange einzusetzende Beträge zur Bedarfsdeckung ausgereicht hätten. Eine Mehrfachanrechnung ist unter Berücksichtigung von § 12 Abs 3 Satz 1 Nr 6 SGB 2 nicht zulässig. Schließlich soll durch die Anwendung von § 45 SGB 10 die materiell zutreffende Rechtslage hergestellt werden. Die Vorschrift besitzt keinen darüber hinausgehenden Strafcharakter.
Orientierungssatz
Ist der Schuldner bei Erlass des Erstattungsbescheides noch nicht volljährig, ist der Erstattungsbescheid zum Zeitpunkt seines Erlasses zunächst rechtmäßig. Dies entspricht der § 1629a BGB zugrunde liegenden unbeschränkten Haftung des Minderjährigen bis zum Eintritt der Volljährigkeit. Soweit aber bei Eintritt der Volljährigkeit das an diesem Tag bestehende pfändbare Vermögen hinter den (unter § 1629a BGB fallenden) Verbindlichkeiten zurückbleibt, kommt die Haftungsbeschränkung zum Zuge. In diesem Fall besteht gem § 48 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB 10 Anspruch auf Aufhebung des Erstattungsbescheides (vgl BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R = BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2).
Tenor
I. Der Bescheid des beklagten Jobcenters vom 28.07.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.05.2012 und der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 21.02.2011 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 15.11.2013 werden
- bezüglich der Klägerin zu 2) vollständig und
- bezüglich der Klägerin zu 1) insoweit aufgehoben, als von ihr ein 2.218,07 € übersteigender Betrag gefordert wird.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Das beklagte Jobcenter erstattet elf Zwölftel der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X über die Rechtmäßigkeit eines Rücknahme- und Erstattungsbescheids vom 21.02.2011.
Die Klägerin zu 1) beantragte am 14.10.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für sich und ihre Tochter, geb. am 01.11.1993, der Klägerin zu 2). Dabei gab sie als Vermögen ein Sparbuch (Nr. ............), eine Kapitalversicherung bei der ...... Lebensversicherung AG (Nr. ..........), eine Lebensversicherung bei der .... Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit (Nr. .........) sowie einen Bausparvertrag bei der .... (Nr. ...........) an. Da die Versicherung bei der ...... einen Rückkaufswert in Höhe von 11.495,75 € aufwies, wurde der Klägerin zu 1) am 17.11.2005 telefonisch mitgeteilt, dass keine Hilfebedürftigkeit vorliege, weil das Vermögen den Freibetrag übersteige. Die Klägerin zu 1) kündigte in der Folgezeit die Lebensversicherung. Nachdem der über dem Freibetrag liegende Betrag verbraucht war, wurden den Klägerinnen mit Bescheid vom 02.03.2006 und Folgebescheiden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ab dem 13.02.2006 gewährt.
Im Rahmen eines Datenabgleichs gab die Klägerin zu 1) am 06.10.2010 erstmals an, dass im November 2010 ein Sparkassenbrief (Nr. ..........) ihrer Tochter in Höhe von ca. 7.000 € fällig werde. Das Geld aus dem Sparkassenbrief war zunächst - von der Großmutter der Klägerin zu 2) - am 16.11.2000 für fünf Jahre bis zum 16.11.2005 fest angelegt worden. Am 18.11.2005 wurde der Klägerin zu 2) ein Betrag in Höhe von 7.050,78 € gutgeschrieben. Ein Teilbetrag in Höhe von 6.096,75 € wurde am gleichen Tag erneut über einen Sparkassenbrief für fünf Jahre bis zum 18.11.2010 fest angelegt. Die Klägerin zu 1) erklärte, mit ihrer Tochter sei vereinbart worden, dass sie die vielen Ausgaben, die sie für sie gehabt habe, zunächst durch Überziehung ihres Girokontos decke und wenn der Sparvertrag fällig werde, werde abgerechnet. Am 19.11.2010 wurden dem Girokonto der Tochter der Klägerin zu 1) 6.673,04 € gutgeschrieben.
Mit Schreiben des Jobcenters vom 18.01.2011 wurde der Klägerin zu 1) mitgeteilt, dass das Vermögen ihrer Tochter den Freibetrag seit Leistungsbeginn überstiegen habe. Es sei daher beabsichtigt, sie und ihre Tochter zur Erstattung der zu Unrecht erhaltenen Leistungen zu verpflichten. Sie könne sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen äußern. Mit Schreiben vom 25.01.2011 teilte die Klägerin zu 1) mit, sie habe den Sparkassenbrief bei Erstantragstellung angegeben, das Geld sei teilweise schon verbraucht.
Mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 21.02.2011 wurden alle Bewilligungsbescheide seit Leistungsbeginn zurückgenommen und von der Klägerin zu 1) 12.434,49 €, von ihrer Tochter 12.349,59 € Erstattung verlangt. Hiergegen wurde kein Widerspruch erhoben.
Mit Schreiben eingegangen am 07.07.2011 beantragten die Klägerinnen...