Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. unabweisbarer laufender besonderer Bedarf. Kosten der Wahrnehmung des Umgangsrechts mit dem im Ausland lebenden Kind. Angemessenheit
Leitsatz (amtlich)
Aus § 21 Abs 6 SGB 2 kann sich unter engen Voraussetzungen ein Anspruch auf Übernahme der notwendigen Kosten des Umgangsrechts in Russland ergeben (Anschluss an LSG Mainz vom 24.11.2010 - L 1 SO 133/10 B ER = NJW 2011, 1837).
Orientierungssatz
Als Vergleichsmaßstab können die Kosten angesehen werden, die ein verständiger Umgangsberechtigter außerhalb des Bezugs von Grundsicherungsleistungen aufwenden würde. Hierbei sind jedoch auch die Umstände des Einzelfalles zu beachten, insbesondere die Ausübung des Umgangsrechts in der Vergangenheit (Anschluss an LSG Mainz vom 24.11.2010 - L 1 SO 133/10 B ER aaO).
Tenor
1. Der Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die notwendigen Kosten der Antragstellerin für eine einmaligen Anreise zu und die zugehörige Heimreise von ihrer Tochter ... in ...(Republik ..., Russland) einschließlich eines fünftägigen Aufenthaltes dort vorläufig - bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens - zu übernehmen.
2. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
3. Der Antragstellerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Lübeck ab Antragstellung Prozesskostenhilfe bewilligt.
Gründe
Die Beteiligten streiten über die Bewilligung von Leistungen zur Finanzierung von Fahrtkosten für die Ausübung des elterlichen Sorgerechts im Rahmen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II).
Der (sinngemäße) Antrag der Antragstellerin vom 17.08.2011,
den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihre notwendigen Kosten für einen Besuch bei ihrer Tochter ... in I...(Republik ..., Russland) vorläufig - bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens - zu übernehmen,
hat im tenorierten Umfang Erfolg.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn diese Regelung notwendig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Erforderlich ist danach zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen ein Anordnungsanspruch, also ein rechtlicher Anspruch auf die begehrte Maßnahme. Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen. Das bedeutet, dass die Beweisführung, die einem Antragsteller hinsichtlich der von ihm behaupteten entscheidungserheblichen Umstände grundsätzlich obliegt, vorerst nur einen geringeren Grad an Sicherheit vermitteln muss, als dies in einem Klageverfahren erforderlich wäre. In einem Anordnungsverfahren einstweilen zugesprochene Mittel werden jedoch in aller Regel verbraucht und können, abgesehen von Ausnahmefällen, nach einer etwaigen Aufhebung der Anordnung oder gegenteiligen Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht mehr zurückgezahlt werden. Rein faktisch - wenn auch nicht rechtlich - werden somit im Eilverfahren regelmäßig vollendete Tatsachen geschaffen; daher muss die Wahrscheinlichkeit eines Anspruchs auf die begehrte Leistung sehr groß sein, wobei gegebenenfalls allerdings auch zu berücksichtigen ist, in wessen Sphäre die verbliebenen Ungewissheiten fallen, die den Unterschied zwischen geringer und hoher Wahrscheinlichkeit ausmachen. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen abzuwägen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch besteht, und auf der anderen Seite, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erließe, sich aber im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch nicht besteht (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 86b Rn. 29a).
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der vorliegende Antrag im tenorierten Umfang Erfolg. Die Antragstellerin hat insoweit sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs auf die begehrten Leistungen folgt aus § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II. Danach wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
Die Kammer schließt sich nach eigener Prüfung der insoweit überzeugenden Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Rheinland-Pfalz an (Beschluss v. 24.11.2010, L 1 SO 133/10 B ER, zitiert nach juris). Dieses hat in einem vergleichbaren Fall über die Gewährung notwendiger Kosten zur Ausübung des Umgangsrechts, welches ein Minus gegenüber dem der Antragstellerin zustehenden Sorgerecht darstellt, ausgeführt:
“Ein besonderer Bedarf liegt bereits deshalb vor, weil Kosten des Umgangsrechts...