Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsminderungsrente. Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Rentenabschlag
Orientierungssatz
Die Kammer schließt sich der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG an, der in seinem Urteil vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R = SozR 4-2600 § 77 Nr 3 entschieden hat, dass die Praxis der Rentenversicherungsträger, bei einem Recht auf Rente wegen Erwerbsminderung, das bereits vor Vollendung des 60. Lebensjahres entstanden ist, auch für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres durch Bestimmung eines niedrigeren Zugangsfaktors (= "Rentenabschlag") einen Teil der vom Rentner für die gesetzliche Rentenversicherung erbrachten Vorleistung unbeachtet zu lassen, gesetz- und verfassungswidrig ist.
Tenor
1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 20. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2007 verurteilt, dem Kläger unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 ab Rentenbeginn eine höhere Rente zu gewähren.
2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer höheren Erwerbsminderungsrente.
Dem am ... 1948 geborenen Kläger wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 20. Dezember 2006 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. September 2005 gewährt. Bei der Rentenberechnung verminderte die Beklagte den Zugangsfaktor von 1,0 für 36 Kalendermonate um insgesamt 0,108 auf einen Wert von 0,892.
Dagegen erhob der Kläger am 2. Januar 2007 Widerspruch. Entsprechend dem Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 (B 4 RA 22/05 R) sei bei der Berechnung seiner Rente ein Zugangsfaktor von 1,0 zu berücksichtigen.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2007 als unbegründet zurück. Mit dem BSG-Urteil, auf das sich der Kläger berufe, werde eine völlig neue und der Intention des Gesetzes entgegen gesetzte Sichtweise formuliert. Anders als das BSG sei der Gesetzgeber eindeutig davon ausgegangen, dass auch die Erwerbsminderungsrenten mit einem Abschlag zu versehen sind, die vor dem 60. Lebensjahr in Anspruch genommen werden.
Dagegen hat der Kläger am 23. Februar 2007 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Er beruft sich weiterhin auf die genannte BSG-Entscheidung.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2007 zu verurteilen, ihm unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 ab Rentenbeginn eine höhere Rente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2007 ist rechtswidrig soweit damit bei der Rentenberechnung ein Zugangsfaktor von unter 1,0 berücksichtigt wird und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Gewährung einer höheren Erwerbsminderungsrente unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0 ab Rentenbeginn.
Zu Unrecht hat die Beklagte der Rentenberechnung einen um Abschläge verminderten Zugangsfaktor zugrunde gelegt. Gemäß § 77 Abs. 1 SGB VI richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. Durch einen niedrigeren Zugangsfaktor als 1,0 soll entsprechend § 63 Abs. 5 SGB VI der Vorteil einer längeren Rentenbezugsdauer ausgeglichen werden. Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem die Erwerbsminderungsrente vorzeitig in Anspruch genommen wird, kann allenfalls - ohne verfassungswidrige Willkür - und überhaupt nur eine Nichtbeachtung der Vorleistung, die der Versicherte für die Rentenversicherung erbracht hat, in Betracht kommen (vgl. BSG 16. Mai 2006 - B 4 RA 22/05 R, SozR 4-2600 § 77 Nr. 3). § 77 Abs. 2 Satz 3 GB VI formuliert ausdrücklich, dass die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt. Gemäß § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist, wenn die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt, die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend.
Zu Recht führt das BSG nach Auffassung der Kammer in der hier streitigen Entscheidung (vgl. BSG a. a. O.) an, dass die Vorleistungsbezogenheit der Rente ein Grundpfeiler des Leistungsrechts der gesetzlichen Rentenversicherung ist. Das heißt, dass stets der volle Wert der Vorleistung bei der Rentenhöhe berücksichtigt werden muss - also ein Zugangsfaktor von 1,0 -, es sei denn, dass besondere im Gesetz ausdrücklich ausgestaltete und ve...