Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge eines Arbeitsunfalls
Orientierungssatz
1. Nach § 56 Abs. 1 S. 1 SGB 7 wird Unfallrente gewährt, wenn infolge des Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 % gemindert ist.
2. Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
3. Nach der maßgeblichen Theorie der wesentlichen Bedingung ist ein Gesundheitsschaden dann als Unfallfolge anzuerkennen, wenn der Unfall eine wesentliche Ursache hierfür war. Ein Faktor ist grundsätzlich dann noch als wesentlich für den Eintritt des Gesundheitsschadens anzusehen, wenn er neben anderen Bedingungen daran mit einem Drittel beteiligt war.
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 22.12.2010 und der Widerspruchsbescheid vom 20.02.2012 werden aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass
- eine längere depressive Reaktion mit gemischter Störung von Gefühlen und Ängsten bei subsyndromaler PTBS,
- ein Zustand nach akuter Exazerbation eines atopischen Ekzems unmittelbar nach dem Überfall mit erneuten Schüben und
- eine traumatisch bedingte ängstlich-akzentuierte Persönlichkeitsstörung
Folgen des Unfalls vom 29.11.2005 sind.
3. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin entsprechend den gesetzlichen Vorschriften eine Rente nach einer MdE i. H. v. 30 % zu gewähren.
4. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Feststellung von Unfallfolgen und eine Rentengewährung.
Bei der im Jahr 1950 geborenen Klägerin besteht an vorbestehenden Erkrankungen seit dem Jahr 2000 ein nummuläres Ekzem an den Beinen, welches insbesondere von August 2005 bis zum 07.11.2005 durch D. behandelt wurde (Bl. 49-1, 49-2 der Akte der Beklagten ≪= UA≫). Anamnestisch sind eine Asthmaerkrankung und eine Höhenangst bekannt.
Seit Juni 2001 war sie in einer Tankstelle als Kassiererin beschäftigt, wo sie am 29.11.2005 von zwei Männern überfallen wurde. Gegenüber E. gab sie am 25.03. 2013 den Hergang und die Zeit danach im Wesentlichen folgendermaßen wieder (= Bl.12 ff. des Gutachtens = Bl. 120 ff. der Akte des Sozialgerichts ≪= SG≫):
Am 29.11.2005 gegen 22.30 Uhr habe sie während der Übergabe an ihre Kollegin von der Spät- zur Nachtschicht die Kasse gerade vor sich gestellt, als ein ausländisch aussehender Mann mit Kapuze vor ihr gestanden sei. Er habe zunächst nichts gesagt, so dass sie selbst auch nichts Böses gedacht habe. Dann sei ein zweiter Mann mit Strickmütze und vorgehaltener Pistole hinzugetreten und habe gesagt: “Wo ist das Geld?„ Sie habe gedacht, ihr Herz bleibe stehen und geantwortet: “Da steht es!„ Er habe sie aufgefordert, in die Knie zu gehen und dann das Geld eingepackt. Inzwischen sei der erste Mann zur Kollegin gegangen mit der Aufforderung: “Geld her!„ Der zweite Mann dann habe nachgeschaut, ob alles Geld aus den Kassen weg sei. Danach habe sie eine Zeitlücke mit black-out. Während des Überfalls habe sie kein Zeitgefühl gehabt. Die Kollegin habe wohl die Polizei gerufen. Bei deren Eintreffen habe sie gezittert, gefroren und einen roten Kopf gehabt. Die Polizei habe sie über zwei Stunden verhört und dann auf ihren Wunsch nachhause gebracht.
Am nächsten Tag habe sie ihren Hausarzt aufgesucht, der ihr das Medikament “Tavor„ verschrieben habe. Kurz nach dem Überfall sei außerdem ein stark juckender Hautausschlag am ganzen Körper aufgetreten, weswegen sie ab dem 12.12.2005 stationär behandelt werden musste. Die ersten Tage nach dem Überfall sei sie mit schlotternden Knien zur Arbeit gegangen. Aus Angst vor einem Verlust des Arbeitsplatzes habe sie vom Kopf her abgekoppelt und versucht weiter zu arbeiten. Bis vor einem halben Jahr habe sie täglich eine halbe Stunde vor der Arbeit 0,5 mg Tavor eingenommen. Sie habe mit der Chefin abgesprochen, dass sie abends in der Dunkelheit eine zweite Person zur Unterstützung bekomme, die Tür abschließe und nur noch über den Nachtschalter bediene. Nur unter diesen Bedingungen und der Tavor-Medikation habe sie überhaupt weiterarbeiten können. Nachts habe sie immer wieder an den Überfall denken müssen, verbunden mit Zittern und Frieren. Gleichzeitig sind Bildsequenzen des Überfalls aufgetreten, insbesondere die Situation, als sie sich habe hinknien müssen. Sie habe sich stark zurückgezogen und nur noch auf ihre Arbeit und ihre Tochter konzentriert, während sie früher viel kontaktfreudiger gewesen sei. Auch habe sie jetzt große Angst in der Dunkelheit und gehe deswegen lieber nicht aus dem Haus. Dies sei vor dem Überfall nicht der Fall gewesen. Auch auf der Straße sei sie wachsamer geworden und würde Reaktionen bei der Begegnung mit ausländisch aussehenden Männern sowie bei ...