Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung: Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Folge eines Arbeitsunfalls. Anforderungen an die Annahme einer Kausalität zwischen Unfall und Gesundheitsschaden bei einer psychischen Erkrankung
Orientierungssatz
1. Bei der Beurteilung der Kausalität zwischen einem Unfallereignis und einem Gesundheitsschaden ist im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung stets auf die individuellen Verhältnisse abzustellen. Es kommt somit auch bei der Prüfung eines Zusammenhangs zwischen einem Unfall und einer psychischen Erkrankung nicht darauf an, ob ein vergleichbares Unfallereignis bei einem bestimmten Teil der Allgemeinbevölkerung oder einer Berufsgruppe eine psychische Erkrankung auslöst, sondern allein darauf, ob der individuell Betroffene tatsächlich aufgrund eines Unfallereignisses einen Gesundheitsschaden erlitten hat (hier: depressives Syndrom mit posttraumatischen Anteilen bei einem Zugbegleiter nach Auffinden eines Leichnams im Gleisbett).
2. Auch dann, wenn ein Unfallschaden zu einer vorbestehenden krankhaften Anlage hinzu tritt, schließt das nicht in jedem Fall die Annahme einer Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden aus, jedenfalls solange nicht nachgewiesen ist, dass der Vorbelastung bei der Ausbildung des Gesundheitsschadens eine überragende Bedeutung beizumessen ist.
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 11.02.2010 und der Widerspruchsbescheid vom 30.08.2010 werden teilweise aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass “eine chronifizierte mittelgradig bis schwere depressive Episode mit posttraumatischen Anteilen„ Folge des Arbeitsunfalls vom 26.11.2008 ist.
3. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu 4/5 zu erstatten.
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Feststellung weiterer Zeiten der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit.
Der im Jahr 1965 geborene Kläger war seit September 1981 als Zugbegleiter bei der Deutschen Bahn beschäftigt. Am 26.11.2008 begleitete er als Zugchef den IC 2013 von Mannheim nach Oberstdorf. Ca. drei Minuten nach der Abfahrt in Stuttgart erfolgte eine Notbremsung. Der Lokführer verständigte den Kläger, dass es eventuell zu einer Selbsttötung gekommen sein könnte. Daraufhin begab sich der Kläger an das Zugende, um vom Steuerwagen aus nachzusehen, ob er etwas erkennen könne. Er fand eine tote Person, bemerkte, dass der Kopf vom Rumpf getrennt war und sah dem Leichnam direkt ins Gesicht. Nach seinen Angaben gegenüber der Diplom-Psychologin E. habe er zunächst weiter funktioniert und die Schicht zu Ende gefahren. In der planmäßigen Auswärtsübernachtung habe er jedoch nicht schlafen können und würde seit dem Ereignis unter zittrigen Händen leiden (Bl. 5, 8 der Akte der Beklagten ≪= UA≫). Am nächsten Tag fuhr er nach Hannover zurück und meldete sich aufgrund des erlittenen seelischen Schocks krank. Die Angaben des Klägers zur Auffindesituation der Leiche wurden in der polizeilichen Meldung vom 26.11.2008 bestätigt. Es wurde jedoch darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um eine Frau gehandelt hat (Bl. 69 UA).
Am 2., 12. und 19.12.2008 sowie am 08. und 30.01.2009 befand sich der Kläger in psychologischer Betreuung bei der Diplom-Psychologin E.. Im Bericht vom 19.12. 2008 führte sie aus, dass das Ereignis für ihn das erste dieser Art gewesen sei und den Tagen danach deutliche vegetative Unruhesymptome, wie z. B. das Zittern der Hände, vorhanden gewesen seien. Er sei das Bild des verzerrten Gesichts nicht losgeworden. Im Verlauf der Gespräche seien die typischen Traumasymptome zunächst leicht abgeklungen und verstärkt depressive Symptome geschildert worden. Beim letzten Termin sei wieder eine Zunahme der traumatischen Symptome festzustellen gewesen. Am medizinischen Zusammenhang der psychischen Situation des Klägers mit der erlebten Unfallsituation würde kein Zweifel bestehen. Auf der Basis einer schon im Vorfeld existierenden Belastung bis an die persönlichen Grenzen (große Patchworkfamilie mit mehreren Pflegekindern, ein zu versorgendes Anwesen mit vielen Haustieren) würde jedoch die Gefahr einer depressiven Entwicklung bestehen, die durch die unmittelbare Konfrontation mit dem gewaltsamen Tod eines anderen Menschen ausgelöst worden sei (Bl 8 ff., 41 ff. UA).
Ab dem 12.02.2009 befand sich der Kläger in psychotherapeutischer Behandlung bei Herrn F.. Diesem gegenüber hatte der Kläger angegeben, dass er aufgrund der extremen Verstümmelung der Leiche zunächst wie schockhaft erstarrt gewesen sei. Der Kopf sei vom Rumpf getrennt im Gleisbett gelegen, wohingegen der Kopf abgetrennt auf dem Hals gestanden und einen schrecklichen Anblick geboten habe. Das verzerrte Gesicht, die glatten Haare, den Schnauzbart und die weit herunter gezogenen Mundwinkel könne er nicht vergessen. Das Bild sei wie ein Diapositiv in seinem Gehirn eingebra...