Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungswidrigkeit des § 22 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB II
Leitsatz (amtlich)
1. § 22 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB II ist verfassungswidrig. Die Regelung verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG (Schutz der Menschenwürde) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip).
2. Das Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums garantiert nicht nur die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die in Regelbedarfen (ggf. ergänzt durch Mehrbedarfe) zusammengefasst sind, sondern auch die Bedarfe für Unterkunft und Heizung (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 u.a. - Rn. 135).
3. Mit der Begrenzung der bei der Bedarfsberechnung zu berücksichtigenden Unterkunftskosten auf die "angemessenen" Aufwendungen in § 22 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB II verstößt der Gesetzgeber gegen das verfassungsrechtliche Gebot, die für die Verwirklichung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wesentlichen Regelungen selbst zu treffen.
§ 22 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB II verstößt auch deshalb gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, weil der Gesetzgeber die zur Festsetzung der existenzsichernden Leistungen erforderliche Auswahl der Methoden zur Bedarfsermittlung und zur tragfähigen Begründbarkeit der Höhe des Leistungsanspruchs nicht vorgenommen hat.
4. Die Frage, ob darüber hinaus die über § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II gewährten Leistungen evident nicht zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausreichen, lässt sich in Folge der Unbestimmtheit der Regelung nicht beantworten.
5. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 22 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB II ist nicht möglich. Sämtliche diesbezüglich vertretenen Auffassungen laufen entweder auf eine verfassungswidrige Wahrnehmung des der Legislative obliegenden Gestaltungsauftrags durch Gerichte und Verwaltung oder auf eine gleichfalls verfassungswidrige faktische Normverwerfung wiederum durch Gerichte und Verwaltung hinaus.
6. Entscheidungserheblichkeit im Sinne des Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG liegt bereits vor, wenn bei Gültigkeit der Vorschrift ein Entscheidungsspektrum eröffnet wird, das eine Abweichung von der Entscheidung bei Nichtigkeit der Vorschrift ermöglicht. Nicht erforderlich ist hingegen das Vorliegen einer einzigen Entscheidungsalternative, da andernfalls eine Vorlage von für verfassungswidrig zu unbestimmt gehaltenen Regelungen ausgeschlossen wäre.
Tenor
1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
2. Dem Bundesverfassungsgericht wird folgende Frage zur Entscheidung vorgelegt:
Ist § 22 Abs. 1 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Nr. 23, S. 868) mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG - Sozialstaatlichkeit - und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar, soweit nach dessen 2. Halbsatz die für die Höhe des Anspruchs auf Grundsicherungsleistungen nach §§ 19 Abs. 1, 19 Abs. 3 S. 1 SGB II maßgeblichen Bedarfe für Unterkunft und Heizung lediglich anerkannt werden, soweit die tatsächlichen Aufwendungen hierfür angemessen sind, ohne dass der Gesetzgeber nähere Bestimmungen darüber getroffen hat, unter welchen Umständen von unangemessenen Aufwendungen auszugehen ist?
Tatbestand
Der Kläger begehrt höhere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 01.12.2013 bis zum 31.03.2014.
Der am … geborene Kläger bezieht seit November 2009 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II vom Beklagten. Zunächst lebte der Kläger gemeinsam mit seiner Mutter in einer 73 m² großen Mietwohnung in …. Mietvertragspartnerin war zunächst die Mutter. Seit deren Tod am … wohnt der Kläger allein in dieser Wohnung.
Mit Schreiben vom 05.03.2012 forderte der Beklagte den Kläger zur Senkung seiner Unterkunftskosten auf. Eine Prüfung des Leistungsanspruchs habe ergeben, dass die tatsächlichen Aufwendungen für die Wohnung des Klägers in Höhe von 313 Euro monatlicher Kaltmiete für 73 m² Wohnfläche unangemessen seien. Der Beklagte teilte dem Kläger darüber hinaus mit, dass für ihn und die in seinem Haushalt lebenden Personen eine Kaltmiete von 285 Euro pro Monat angemessen sei, welche sich aus einer maximal zu beanspruchenden Wohnfläche von 50 m² und einem Mietpreis von 5,70 Euro pro Quadratmeter für Wohnraum in … errechne. Die Bemühungen zur Senkung der Kaltmiete solle der Kläger bis spätestens 30.09.2012 belegen und durch Vorlage geeigneter Unterlagen (Zeitungsannoncen, Anzeigenrechnungen, Durchschriften von Schreiben an mögliche Vermieter, Eintragung in die Liste der Wohnungssuchenden usw.) nachweisen. Für den Fall, dass der Kläger nicht zu einer Reduzierung der derzeitigen Unterkunftskosten bereit sei bzw. sein Bemühen bis zum 30.09.2012 nicht glaubwürdig belegen könne, weise der Beklagte darauf hin, dass ab dem 01.10.2012 nur noch angemessene Kaltm...