Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Angemessenheitsprüfung. Abweichung von der Rechtsprechung des BSG zum schlüssigen Konzept. Unterkunftsbedarf als Bestandteil des menschenwürdigen Existenzminimums. Vorgaben und Anforderungen des BVerfG. Zuständigkeit des Gesetzgebers. verfassungskonforme Auslegung des Angemessenheitsbegriff. Zweipersonenhaushalt in Worms in Rheinland-Pfalz
Leitsatz (amtlich)
1. Die Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs des § 22 Abs 1 S 1 SGB 2 durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum "schlüssigen Konzept" ist nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG vereinbar, wie es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua = BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 näher bestimmt worden ist.
2. Für eine Bestimmung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums durch am einfachen Wohnstandard orientierte Mietobergrenzen fehlt es an einer den prozeduralen Anforderungen des BVerfG genügenden und hinreichend bestimmten parlamentsgesetzlichen Grundlage.
3. Die Kammer konkretisiert den Angemessenheitsbegriff deshalb nach Maßgabe des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung in der Weise, dass unangemessen im Sinne des § 22 Abs 1 S 1 SGB 2 lediglich Kosten der Unterkunft sind, die deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen.
Orientierungssatz
Offen bleibt, ob das Konzept des Grundsicherungsträgers zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenze iS des § 22 Abs 1 S 1 SGB 2 nach der Rechtsprechung des BSG hinreichend "schlüssig" wäre. Es bestehen jedoch Bedenken, soweit für den Zweipersonenhaushalt in Worms der arithmetische Mittelwert des unteren Spannenwertes der fünf Baualtersklassen des Mietspiegels des Jahres 2008 herangezogen wurde.
Tenor
1. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 30.7.2009 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 8.9.2009 und vom 7.1.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5.11.2009 verurteilt, den Klägern Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von weiteren 65,93 € monatlich für den Zeitraum vom 1.9.2009 bis zum 28.2.2010 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Der Beklagte erstattet den Klägern 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten.
4. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe der von dem Beklagten zu gewährenden Leistungen für Unterkunft und Heizung.
Die am 1954 geborene Klägerin und der am 1951 geborene Kläger sind miteinander verheiratet. Sie beziehen seit März 2007 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Beklagten. Im Zuge der Erstantragsstellung legten die Kläger eine Mietbescheinigung des Vermieters vor, nach der sie für ihre 63 qm große Wohnung, welche sie seit dem 1.2.2000 bewohnen, eine Kaltmiete von 358,13 € monatlich zu entrichten haben.
Mit Bescheid vom 13.3.2007 bewilligte der Beklagte den Klägern Leistungen nach dem SGB II in Höhe von insgesamt 241,93 € monatlich für den Zeitraum vom 1.3.2007 bis zum 31.8.2007 unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 465,52 € und unter Anrechnung von Erwerbseinkommen des Klägers.
Mit Schreiben vom 13.3.2007 wies der Beklagte darauf hin, dass für einen Zweipersonenhaushalt eine Kaltmiete in Höhe von 277,20 € als angemessen angesehen werde, forderte die Kläger zur Kostensenkung auf und kündigte eine entsprechende Kürzung für den folgenden Bewilligungszeitraum ab dem 1.9.2007 an. In der Folgezeit wurden den Klägern Leistungen lediglich auf Grundlage der jeweils als angemessen angesehenen Kaltmiete bewilligt.
Mit Bescheid vom 30.7.2009 bewilligte der Beklagte den Klägern Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1.9.2009 bis zum 28.2.2010 in Höhe von insgesamt 1.079,47 €, worin insgesamt 433,47 € an Kosten der Unterkunft und Heizung und jeweils 323 € Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts enthalten waren. Der Beklagte legte der Leistungsberechnung an Stelle der tatsächlichen Kaltmiete von 358,13 € den nunmehr als angemessen angesehenen Betrag von 292,20 € zu Grunde. Die Bewilligung erfolgte als Vorschuss unter Berufung auf § 42 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Die Klägerin und der Kläger erzielten jeweils ein Einkommen von 100 € monatlich aus Erwerbstätigkeit, welches auf Grund des Freibetrags nach § 11 Abs. 2 S. 2 SGB II a.F. nicht bedarfsmindernd angerechnet wurde.
Gegen den Bewilligungsbescheid legten die Kläger mit Schreiben vom 18.8.2009 Widerspruch ein und wandten sich u.a. gegen die Höhe der anerkannten Kosten für Unterkunft und Heizung. Zur Begründung trugen sie vor, dass ihre Wohnung mit 62 qm und einer vertraglichen Kaltmiete von 358,13 € weder zu groß noch zu teuer sei, und entsprechend der Tabelle 2 des Mietspi...