Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsätzliche Verpflichtung des Rentenversicherungsträgers zur Ermessensausübung bei der Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit

 

Orientierungssatz

1. § 48 Abs. 1 S. 2 SGB 10 unterwirft die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit einem eingeschränkten Ermessen. Der Leistungsträger muss in der Regel den Verwaltungsakt rückwirkend aufheben, in atypischen Fällen kann er nach seinem Ermessen hiervon abweichen.

2. Bei gleichartigem Renten- und Krankengeldbezug des Versicherten ist im Rahmen der Rückforderungsentscheidung des Rentenversicherungsträgers von diesem zu prüfen, ob die Erwerbsminderungsrente nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt bewilligt wird, um so eine Schlechterstellung des Versicherten in finanzieller Hinsicht zu vermeiden.

3. Hat der Rentenversicherungsträger in einem solchen Fall ohne weitere Prüfung einen Regelfall angenommen, so ist dessen Entscheidung mangels Ermessensausübung ermessensfehlerhaft und damit aufzuheben.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 08.11.2017; Aktenzeichen B 13 R 229/17 B)

 

Tenor

1. Der Bescheid vom 01.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.05.2013 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Rückforderung von Rentenleistungen in Höhe von 1.716,71 € streitig.

Mit Bescheid vom 03.02.2011 bewilligte die Beklagte der am … 1957 geborenen Klägerin auf ihren Weiterbewilligungsantrag vom 16.11.2010 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.04.2011 bis 31.03.2013. Am 23.01.2012 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Mit Bescheid vom 22.05.2012 bewilligte die Beklagte der Klägerin die Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.01.2012 bis längstens 31.05.2023 (Monat des Erreichens der Regelaltersgrenze). Aus dem Bescheid ergibt sich, dass für die Zeit ab 01.07.2012 laufend monatlich 1.026,06 € gezahlt werden. Für die Zeit vom 01.01.2012 bis 30.06.2012 beträgt die Nachzahlung 6.024,78 €. Der Rentenbescheid enthielt in der Anlage 10 Hinweise zu der Bescheidaufhebung und deren Begründung:

“Der Bescheid [...] über die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wird hinsichtlich des Zahlungsanspruchs für die Zeit ab 01.01.2012 nach § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) aufgehoben. Für die Zeit vom 01.01.2012 bis 30.06.2012 ergibt sich eine Überzahlung von 3.012,36 € (6 x 502,06 €). Der überzahlte Betrag ist zu erstatten (§ 50 Abs. 1 SGB X). [...] Bestehen für denselben Zeitraum Ansprüche auf mehrere Renten aus eigener Versicherung, wird nur die höchste Rente geleistet (§ 89 Abs. 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch, SGB VI). Die mit diesem Bescheid bewilligte Rente ist höher als die bisherige Rente. Der Zahlungsanspruch auf die bisherige Rente ist daher für die Zeit, für die Anspruch auf die mit diesem Bescheid bewilligte Rente besteht, entfallen.„

Mit Schreiben vom 04.06.2012 machte die Krankenkasse der Klägerin gegenüber der Beklagten die Abrechnung des Erstattungsanspruchs nach § 103 SGB X i.V.m. § 50 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) geltend. Aus dem Schreiben ergibt sich, dass die Klägerin in der Zeit vom 01.01.2012 bis 22.05.2012 Krankengeld in Höhe von täglich 43,31 € bezogen hat. Die Erstattungsforderung seitens der Krankenkasse wird insgesamt auf 4.729,13 € beziffert.

Mit Bescheid vom 01.08.2012 forderte die Beklagte sodann von der Klägerin die Rückzahlung einer restlichen Überzahlung in Höhe von 1.716,71 €. Im Rahmen dieses Bescheides führte die Beklagte aus: “Die einbehaltene Rentennachzahlung für die Zeit vom 01.01.2012 bis 30.06.2012 beträgt 6.024,78 €. Davon haben wir zur Erfüllung des Erstattungsanspruches der Barmer-GEK für die Zeit 01.01.2012 bis 30.06.2012 den Betrag von 4.729,13 € an diese überwiesen. Damit mindert sich die Nachzahlung auf den Betrag von 1.295,65 €. Den überzahlten Betrag haben wir mit dieser Nachzahlung verrechnet. Wir sind dabei davon ausgegangen, dass diese Vorgehensweise in Ihrem Interesse liegt. Die restliche Überzahlung beträgt noch 1.716,71 €.„

Mit Schreiben vom 06.08.2012 legte die Klägerin gegen den Bescheid vom 01.08.2012 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie in einem weiteren Schreiben vom 10.08.2012 aus, dass der Erstattungsanspruch der Krankenkasse in Höhe von 4.729,13 € durch eine fehlerhafte Berechnung der Beklagten entstanden sei, da diese den rückwirkend entstandenen Anspruch auf Vollrente zugrunde gelegt habe. Die Rückerstattung der 4.729,13 € an die Krankenkasse verstoße gegen § 50 Abs. 1 Satz 2 SGB V.

Mit Schreiben vom 31.08.2012 führte die Beklagte gegenüber der Klägerin näher aus, dass eine entsprechende Verrechnung ganz bewusst nicht vorgenommen worden sei. Die Beklagte folge mit dieser Verfahrensweise der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 07.09.2010 (Az.: B 5 KN 4/08 R). Danach stelle die für den gleichen Zeitraum geleistete Rente wegen teilweiser Erwerbsmind...

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