Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Ermächtigung. Ermittlung der Bedarfssituation. Vollziehungsinteresse. sofortige Vollziehung. Begründung einer Anordnung der sofortigen Vollziehung. Streitwertfestsetzung
Leitsatz (amtlich)
1. Eine gegenüber früher abweichende Bedarfs- und Bedarfsdeckungssituation bzgl einer Ermächtigung ergibt sich nicht bereits aus allgemeinen Aussagen oder aus Auskünften niedergelassener Vertragsärzte. Zur Ermittlung der Bedarfssituation ist es zwar sachgerecht und statthaft, die bereits niedergelassenen Ärzte nach ihrem Leistungsangebot und der Aufnahmekapazität ihrer Praxen zu befragen. Dabei ist aber die Gefahr zu beachten, dass die Äußerungen der befragten niedergelassenen Ärzte in starkem Maße auf deren subjektiven Einschätzungen beruhen und von deren individueller Interessenlage mit beeinflusst sein können, was eine kritische Würdigung der Antworten durch die Zulassungsgremien erfordert. Es ist erforderlich, etwa die Anzahlstatistiken der in Frage kommenden Vertragsärzte beizuziehen, um festzustellen, inwieweit im Bereich des streitigen Bedarfs von diesen Ärzten Leistungen erbracht werden (vgl BSG vom 28.6.2000 - B 6 KA 35/99 R = BSGE 86, 242 = SozR 3-2500 § 101 Nr 5 mwN).
2. Im Ausnahmefall kann das Vollziehungsinteresse mit dem Interesse an einer sofortigen Vollziehung identisch sein. Wird aus der Begründung die Dringlichkeit der Vollziehung hinreichend deutlich, so kann zur Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 86a Abs 2 Nr 5 SGG) hierauf verwiesen werden (vgl LSG Darmstadt vom 23.12.2005 - L 7 AL 228/05 ER; LSG Essen vom 20.1.2004 - L 10 B 19/03 KA ER = KHuR 2005, 66; LSG Essen vom 6.1.2004 - L 11 B 17/03 KA ER = Breith 2004, 263; LSG Essen vom 14.4.2003 - L 10 B 8/03 KA ER und SG Mainz vom 7.9.2005 - S 6 ER 126/05.
3. Gerade in Zulassungssachen kann die aufschiebende Wirkung zur Vereitelung eines Anspruchs führen. Deshalb kann die sofortige Vollziehung auch im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet werden (§ 86a Abs 2 Nr 5 SGG) (vgl BSG vom 5.11.2003 - B 6 KA 11/03 R = BSGE 91, 253 = SozR 4-2500 § 103 Nr 1). Dies steht nicht im Widerspruch zu § 97 Abs 4 SGB 5, der allein auf das öffentliche Interesse abstellt. Auch der Berufungsausschuss hat bereits zu prüfen, ob die sofortige Vollziehung geboten ist, um den Eintritt schwerer und unzumutbarer, anders nicht abwendbarer Nachteile für den Begünstigten zu vermeiden, oder ob den Belangen eines anfechtenden Dritten der Vorrang gebührt. Innerhalb dieses Abwägungsprozesses ist auch Raum für die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses (vgl BVerfG vom 12.12.2001 - 1 BvR 1571/00 = SozR 3-1500 § 97 Nr 5 = NZS 2002, 368).
4. Maßgeblich für die Tragweite der Begründung einer Anordnung der sofortigen Vollziehung ist nicht der sprachliche Umfang, sondern ihr Inhalt. Das Abstellen auf das Patienteninteresse ist nicht nur zulässig, sondern auch geboten. Wartezeiten von sechs bis acht Wochen für endoskopische Leistungen sind den Versicherten nicht zumutbar. Auf der Grundlage einer unzureichenden Bedarfsdeckung kann die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht mit den Interessen der niedergelassenen Vertragsärzte kollidieren. Von daher bedarf es mit diesen Interessen keiner besonderen Abwägung.
Orientierungssatz
Bei der Festsetzung des Streitwertes ist vom Umsatz der Kassenärztlichen Vereinigung pro Quartal für den strittigen Ermächtigungsbereich abzüglich Unkosten auszugehen.
Tenor
1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 10.02.2006 wird zurückgewiesen.
2. Die Antragstellerin hat dem Antragsgegner und dem Beigeladenen zu 1) die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten und trägt auch die Gerichtskosten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.
3. Der Streitwert wird auf 28.000 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Antragstellerin begehrt die Aussetzung der Anordnung der sofortigen Vollziehung einer durch den Antragsgegner ausgesprochenen Ermächtigung.
Der Beigeladene zu 1) ist Internist mit dem Schwerpunkt Gastroenterologie. Er ist Chefarzt der Inneren Abteilung am xxx Krankenhaus, in xxx. Der Zulassungsausschuss für Ärzte bei der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen hatte ihn zuletzt mit Beschluss vom 24.06.2003 befristet bis zum 30.06.2005 für verschiedene Leistungen ermächtigt. Den Widerspruch der Antragstellerin hatte der Antragsgegner mit Beschluss vom 06.04.2005 zurückgewiesen.
Am 24.02.2005 beantragte der Beigeladene zu 1) die Verlängerung seiner Ermächtigung. Die Antragstellerin empfahl eine Ablehnung des Antrags, da zwischenzeitlich weitere fachärztliche Internisten auch mit dem Schwerpunkt Gastroenterologie niedergelassen seien. Ein Teil der Leistungen sei in der Vergangenheit kaum erbracht worden. Die niedergelassenen Ärzte müssten endoskopische Leistungen auch in einem Mindestumfang nach den Qualitätsrichtlinien erbringen.
Der Zulassungsausschuss für Ärzte bei der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen lehnte mit Beschluss vom 31.05.2005 den Antrag unte...