Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsärztliche Versorgung. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Bestimmung von Praxisbesonderheiten. Beurteilungsspielraum

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Bestimmung von Praxisbesonderheiten können im Rahmen des Schätzungsermessens Prävalenzwerte als Orientierungswert für die Quantifizierung der Praxisbesonderheit herangezogen werden. Eine rein statistische Betrachtung ist jedoch aufgrund der Unschärfe der Prävalenzwerte nicht geboten.

2. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung ist der Bezug allein auf Abrechnungsdiagnosen und Ausschluss jeden weiteren Tatsachenvortrages im Verfahren vor den Prüfgremien beurteilungsfehlerhaft (Anschluss an SG Berlin vom 9.1.2019 - S 87 KA 77/18).

 

Tenor

1. Der Bescheid des Beklagten vom 25.4.2017 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

2. Der Beklagte trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über Honorarkürzungen in Höhe von 31.043,10€ netto für die Quartale I/2013-IV/2014 nach Durchführung einer Prüfung nach § 10 Abs. 2 der Prüfvereinbarung (Prüfung der Behandlungsweise nach Durchschnittswerten) wegen eines offensichtlichen Missverhältnisses im Vergleich zur Fachgruppe im Bereich der Gebührenordnungsposition (GOP) 35110 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) (verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen).

Die Klägerin ist seit dem 1. April 1998 als Fachärztin für Allgemeinmedizin mit Praxissitz in A-Stadt niedergelassen und nimmt an der hausärztlichen Versorgung teil.

Mit Schreiben vom 14. März 2016 informierte die Prüfungsstelle (PS) die Klägerin über die von Amts wegen durchgeführte Überprüfung der Wirtschaftlichkeit. Die Klägerin nahm daraufhin Bezug auf ihre Einwände bezogen auf die Prüfverfahren der Vorjahre (vgl. Urteil der Kammer vom gleichen Tag zum Aktenzeichen S 17 KA 476/17 hinsichtlich des Jahres 2012) und wies darauf hin, dass zwar eine Überschreitung bei der GOP 35110 EBM vorliege, jedoch hinsichtlich aller übrigen Werte ganz erhebliche Unterschreitungen festzustellen seien. Die Arzneimittelkosten lägen ca. 65% unter den Kosten der Vergleichsgruppe. Für die Jahre 2009 und 2010 sei mit dem Beklagten im Rahmen einer repräsentativen Einzelfallprüfung ein Vergleich abgeschlossen worden, der Praxisbesonderheiten bei 300-400% über dem Durchschnitt der Vergleichsgruppe angesetzt habe.

Diese Praxisbesonderheit bestehe fort und liege insbesondere in einem Schwerpunkt im Bereich der psychosomatischen Medizin begründet. Über Jahre hinweg habe sich eine besondere Patientenstruktur herausgebildet. Sie versorge besonders viele junge Menschen, insbesondere Schüler und Studenten mit psychosomatischen Krankheitsbildern.

Die Lebenssituation von Studierenden mit den typischen Problemschwerpunkten (z.B. Identitätskrisen, Selbstwertzweifel, Ängste, Depressionen, Arbeitsstörungen und Prüfungsstress) seien häufig Auslöser für verschiedene psychosomatische Erkrankungen. Bei ausländischen Studenten kämen noch traumatische Erlebnisse infolge von Krieg und Flucht sowie Integrationsprobleme oder Heimweh hinzu. Aufgrund jahrelanger Zusammenarbeit mit der Aidshilfe in A-Stadt gehörten auch überproportional viele Angehörige sexueller Minderheiten zu ihrem Klientel. Homosexuelle Männer hätten im Vergleich zur Normalbevölkerung ein vierfach höheres Risiko für einen Suizidversuch, lesbische Frauen erkrankten viermal häufiger an einer Alkoholabhängigkeit. Ebenfalls eine große Patientengruppe bildeten die zahlreichen Opfer sexuellen Missbrauchs. Dieser Personenkreis leide überdurchschnittlich häufig an Angsterkrankungen, depressiven Störungen, sexuellen Störungen, Essstörungen und Suchterkrankungen. Sie sei hier häufig die erste Anlaufstation.

Die Prüfungsstelle führte bezüglich der GOP 35110 EBM für sämtliche streitgegenständlichen Quartale eine Prävalenzprüfung durch, aus der sich anhand der dokumentierten Erkrankungen aus dem Bereich der psychischen Störungen und der Verhaltensstörungen nach Maßgabe bestimmter ICD-10 Verschlüsselungen (F32-F98) jeweils eine Mehrversorgung gegenüber der Fachgruppe ergab.

Mit Bescheid vom 20. Juli 2015 stellte die Prüfungsstelle die folgenden Auffälligkeiten fest:

Qtl.

GO-NR.

Anz.-GO-NR.

je 100-Fälle-

Praxis

Durch. je

Fall-Praxis

Anz.-GO-NR.

je 100-Fälle

ausf.

Praxen

Durch. je

Fall

ausf.

Praxen-

PG

Abw. in %

2013/1

35110 

42

6,39

9

1,32

384,09

2013/2

35110 

35

5,40

9

1,40

285,71

2013/3

35110 

46

7,11

9

1,39

411,51

2013/4

35110 

56

8,59

9

1,32

550,76

2014/1

35110 

61

9,43

9

1,39

578,42

2014/2

35110 

48

7,50

9

1,34

459,70

2014/3

35110 

38

5,99

9

1,38

334,06

2014/4

35110 

25

3,84

9

1,36

182,35

Es bestehe ein offensichtliches Missverhältnis im Vergleich zur Fachgruppe, was einem Anscheinsbeweis für ein unwirtschaftliches Verhalten entspreche. Der Vergleich sei mit der Prüfgruppe 101-33 (voll zugelassene Allgemeinärzte/hausärztliche Internisten in Hessen) vo...

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