Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Bestimmung von Praxisbesonderheiten können im Rahmen des Schätzungsermessens Prävalenzwerte als Orientierungswert für die Quantifizierung der Praxisbesonderheit herangezogen werden. Eine rein statistische Betrachtung ist jedoch aufgrund der Unschärfe der Prävalenzwerte nicht geboten.
2. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung ist der Bezug allein auf Abrechnungsdiagnosen und Ausschluss jeden weiteren Tatsachenvortrages im Verfahren vor den Prüfgremien beurteilungsfehlerhaft (Anschluss an SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18).
Orientierungssatz
Parallelentscheidung zu dem Urteil des SG Marburg vom 19.6.2019 - S 17 KA 409/17, das vollständig dokumentiert ist.
Tenor
1. Der Bescheid des Beklagten vom 7.6.2017 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
2. Der Beklagte trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über Honorarkürzungen in Höhe von 21.432,40€ netto für die Quartale I/2012-IV/2012 wegen eines offensichtlichen Missverhältnisses im Vergleich zur Fachgruppe im Bereich der Gebührenordnungsposition (GOP) 35110 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) (verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) im Rahmen einer Prüfung nach § 10 Abs. 2 der Prüfvereinbarung (Prüfung der Behandlungsweise nach Durchschnittswerten).
Die Klägerin ist seit dem 1. April 1998 als Fachärztin für Allgemeinmedizin mit Praxissitz in A-Stadt niedergelassen und nimmt an der hausärztlichen Versorgung teil.
Mit Schreiben vom 30. Januar 2015 informierte die Prüfungsstelle (PS) die Klägerin über die von Amts wegen durchgeführte Überprüfung der Wirtschaftlichkeit. Die Klägerin trug daraufhin umfangreich vor, wobei sie insbesondere darauf hinwies, dass der besondere Schwerpunkt ihrer Praxis auf der psychosomatischen Medizin liege. Über Jahre hinweg habe sich eine besondere Patientenstruktur herausgebildet. Sie versorge besonders viele junge Menschen, insbesondere Schüler und Studenten mit psychosomatischen Krankheitsbildern.
Die Lebenssituation von Studierenden mit den typischen Problemschwerpunkten (z.B. Identitätskrisen, Selbstwertzweifel, Ängste, Depressionen, Arbeitsstörungen und Prüfungsstress) seien häufig Auslöser für verschiedene psychosomatische Erkrankungen. Bei ausländischen Studenten kämen noch traumatische Erlebnisse infolge von Krieg und Flucht sowie Integrationsprobleme oder Heimweh hinzu. Aufgrund jahrelanger Zusammenarbeit mit der Aidshilfe in A-Stadt gehörten auch überproportional viele Angehörige sexueller Minderheiten zu ihrem Klientel. Homosexuelle Männer hätten im Vergleich zur Normalbevölkerung ein vierfach höheres Risiko für einen Suizidversuch, lesbische Frauen erkrankten viermal häufiger an einer Alkoholabhängigkeit. Ebenfalls eine große Patientengruppe bildeten die zahlreichen Opfer sexuellen Missbrauchs. Dieser Personenkreis leide überdurchschnittlich häufig an Angsterkrankungen, depressiven Störungen, sexuellen Störungen, Essstörungen und Suchterkrankungen. Sie sei hier häufig die erste Anlaufstation.
Die Klägerin fügte zwei Stellungnahmen von Kolleg*innen bei. Prof. Dr. D., Leiter der Psychotherapie-Ambulanz der Philipps-Universität Marburg bescheinigte in einer Stellungnahme vom 19. Februar 2013 der Klägerin, dass diese Leistungen bei psychosomatischen Beschwerden in herausragender Qualität anbiete. Diese Patientengruppe erhalte eine hoch-kompetente und verständnisvolle Behandlung. Aus seiner Sicht habe die Klägerin in den letzten Jahren für Patienten mit psychosomatischen Beschwerden eine herausragende Versorgungsfunktion in der Region eingenommen.
Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. E. attestierte der Klägerin mit Schreiben vom 22. Februar 2013, dass die Klägerin ihre Liste der Überweiser mit großem Abstand angeführt habe. Die Praxis der Klägerin sei auf jeden Fall als eine psychosomatische Schwerpunktpraxis zu betrachten.
Die Prüfungsstelle führte bezüglich der GOP 35110 EBM für das Quartal I/2012 eine Prävalenzprüfung durch, aus der sich anhand der dokumentierten Erkrankungen aus dem Bereich der psychischen Störungen und der Verhaltensstörungen nach Maßgabe bestimmter ICD-10 Verschlüsselungen (F32-F98) eine Mehrversorgung gegenüber der Fachgruppe von +104% errechnete.
Mit Bescheid vom 20. Juli 2015 stellte die Prüfungsstelle die folgenden Auffälligkeiten fest:
|
Quartal |
GO-NR. |
Anz.-GO-NR. je 100-Fälle- Praxis |
Durch. je Fall- Praxis |
Anz.-GO-NR. je 100-Fälle ausf. Praxen |
Durch. Je Fall ausf. Praxen-PG |
Abw. in % |
2012/1 |
35110 |
55 |
8,30 |
10 |
1,47 |
464,63 |
2012/2 |
35110 |
57 |
8,59 |
10 |
1,43 |
500,70 |
2012/3 |
35110 |
69 |
10,41 |
10 |
1,46 |
613,01 |
2012/4 |
35110 |
58 |
8,80 |
10 |
1,45 |
506,90 |
Bei der Leistungen der GOP 35110 EBM handele es sich um eine fachgruppentypische Leistung. Es bestehe ein offensichtliches Missverhältnis im Vergleich zur Fachgruppe, was einem Anscheinsbeweis für ein unwirtschaftliches...