Orientierungssatz

Parallelentscheidung zu dem Urteil des SG Marburg vom 30.10.2019 S 17 KA 47/16, das vollständig dokumentiert ist.

 

Tenor

Die Beschlüsse des Beklagten vom 18.12.2015 und 10.10.2016 werden aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit zweier Regresse in Höhe von 4.810,50€ und 2.170,07€ aufgrund einer Einzelfallprüfung der Gebührenordnungsposition (GOP) 23220 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) in den Jahren 2011 und 2012.

Der Kläger ist als psychologischer Psychotherapeut seit dem 8. April 1996 in A-Stadt niedergelassen und nimmt seitdem als Verhaltenstherapeut an der vertragspsychotherapeutischen Versorgung teil.

Mit Schreiben vom 22. Januar 2014 (hinsichtlich des Jahres 2011) und 25. Februar 2015 (hinsichtlich des Jahres 2012) informierte die Prüfungsstelle (PS) den Kläger jeweils über die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung bezogen auf die GOP 23220 EBM (Psychotherapeutisches Gespräch als Einzelbehandlung) und bat um Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten und kompensatorischer Einsparungen. Es seien die folgenden Überschreitungen im Verhältnis zur maßgeblichen Vergleichsgruppe (VG) der vollzugelassenen psychologischen Psychotherapeuten festgestellt worden:

Qtl.

GO-

NR.

Anz. -GO-

NR. je 100-

Fälle-

Praxis

Durch. Je

Fall-

Praxis

Anz. -GO-NR.

je 100-Fälle

ausf. Praxen

Durch. je Fall

ausf. Praxen-VG

Abw. in %

2011/1

23220 

508     

54,28 

178     

19,02 

+185,38

2011/2

23220 

502     

53,67 

187     

20,02 

+168,08

2011/3

23220 

467     

49,96 

189     

20,18 

+147,57

2011/4

23220 

414     

44,27 

198     

21,16 

+109,22

2012/1

23220 

501     

53,55 

202     

21,63 

+147,57

2012/2

23220 

520     

55,59 

206     

22,00 

+152,68

2012/3

23220 

565     

60,44 

209     

22,37 

+170,18

2012/4

23220 

528     

56,43 

218     

23,26 

+142,61

ln seinen Stellungnahmen erläuterte der Kläger, dass er schwerpunktmäßig mit chronisch kranken Patienten und dabei vornehmlich mit Schmerzpatienten arbeite. Bei dieser Klientel sei, auch nach erfolgreichem Abschluss einer Behandlung, die Notwendigkeit zu einer niederfrequenten psychotherapeutischen Grundversorgung gegeben, um zeitnahe Krisen abzufangen und dadurch Kosten einzusparen. Eine hohe Komorbidität der chronischen Schmerzerkrankungen mit Gewalterfahrungen und sexuellem Missbrauch in der Vorgeschichte sei bekannt (Schätzungen bis 75%). Von daher fänden sich bei ihm viele hoch traumatisierte und schwer beziehungsgestörte Menschen (Diagnosen F60-F69).

Die in den Psychotherapie-Richtlinien (PT-RL) festgelegten Stundekontingente für Verhaltenstherapie seien nicht für die Behandlung von multimorbiden chronischen Erkrankungen ausgelegt. Derartige Störungen könnten nicht in max. 60 Sitzungen geheilt werden. Die multimodale interdisziplinäre Behandlung erfordere einen längeren Betreuungshorizont. Hier biete die GOP 23220 EBM ihm folgende Möglichkeiten:

- Nach einer erfreulich verlaufenen ambulanten Therapie von 25 oder 45 Sitzungen könne er den Patienten durch die Übernahme in die psychotherapeutische Grundversorgung ein niederschwelliges Angebot machen, das helfe, evtl. Krisen zu überbrücken und stabil zu bleiben. Der Erfolg zeige sich besonders deutlich in der Verringerung der notwendigen Medikamente, weniger Krankenhausaufenthalten, weniger Arztbesuchen und besserer Bindung an die Behandler (Vermeidung von doctor hopping).

- Wenn im Rahmen der probatorischen Sitzungen keine Indikation zu einer ambulanten Psychotherapie gestellt werden könne (z.B. Motivationslage, zu geringe Erfolgsaussichten), trotzdem aber eine behandlungsbedürftige Störung mit entsprechenden Leidensdruck vorliege, dann biete die Übernahme in die Grundversorgung die Möglichkeit zur Informierung über Behandlungsalternativen und Motivierung des Patienten. Nicht selten könnten auf diesem Weg Patienten doch noch einer zielführenden Behandlung zugeführt werden.

So sehr er die neuen Möglichkeiten durch die Einführung der Ziffer schätze, so habe er aus ökonomischen Gründen selbst kein Interesse an einer Ausweitung über das allernotwendigste Maß hinaus, da er auf Grund der viel zu niedrigen Honorierung, einen wesentlich geringeren Quartalsumsatz hinnehmen müsse, als dann, wenn er mehr antragspflichtige Leistungen pro Quartal abrechnen würde. Alles in allem sei es in A-Stadt regional gelungen, durch intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit ein Strukturnetz aufzubauen, das es ermögliche, wirtschaftlich und effektiv ein Versorgungsangebot für chronisch Erkrankte aufzubauen, das zukunftsweisend und förderungswürdig sei. Der Druck auf ihn als Niedergelassener, mehr Patienten aufzunehmen, steige die letzten Jahre ständig. Neben den Anfragen der Patienten und der Angehörigen stiegen die Anfragen der Arzte, Berufsgenossenschaften, Reha...

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