Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Hilfebedürftigkeit. Probewohnen im Maßregelvollzug. eigenes Leistungssystem. Leistungsausschluss bei Unterbringung in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung. Sozialhilfe. Nachrangigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Während des Maßregelvollzugs nach § 63 StGB iVm Bayerischem Maßregelvollzugsgesetz (BayMRVG - juris: MVollzG BY) besteht ein eigenständiges umfassendes Leistungssystem für alle Bedarfe der Existenzsicherung. Dies gilt auch für die Vollzugslockerung des Probewohnens nach Art 18 BayMRVG; dieses Probewohnen ist ein Bestandteil des Maßregelvollzugs.
2. Das Leistungssystem des Maßregelvollzugs nach BayMRVG geht dem SGB II und dem SGB XII vor. Es besteht keine Hilfebedürftigkeit nach § 9 Abs 1 SGB II und zugleich ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 SGB II. Leistungen der Sozialhilfe zum Lebensunterhalt sind nachrangig gemäß § 2 SGB XII. Dies gilt auch für die Vollzugslockerung Probewohnen.
Tenor
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 9. September 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. November 2016 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Arbeitslosengeld II von August bis November 2016. Er befand sich in dieser Zeit im Maßregelvollzug nach § 63 StGB und Bayerischem Maßregelvollzugsgesetz (BayMRVG) in der Lockerungsstufe Probewohnen.
Der 1990 geborene Kläger befindet sich seit März 2009 bis aktuell im Maßregelvollzug nach § 63 StGB, d.h. er ist auf Anordnung des Strafgerichts in dem psychiatrischen Krankenhaus B-Klinikum untergebracht, weil er eine rechtswidrige Tat im Zustand verminderter Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit begangen hatte. Von der gesetzlichen Rentenversicherung erhielt der Kläger eine Waisenrente von monatlich 141,20 Euro.
Ab Juli 2016 erfolgte stufenweise die Vollzugslockerung Probewohnen nach Art. 18 BayMRVG im ambulant betreutem Einzelwohnen in einer Wohngemeinschaft außerhalb des Klinikums: In der 29. Kalenderwoche (ab 18.07.2016) übernachtet der Kläger dort ein mal, in der Folgewoche hatte er dort zwei Übernachtungen, usw. Für das Einzelzimmer in dem Wohnheim wurde ein Nutzungsentgelt von 420,- Euro pro Monat festgelegt, davon pauschal 20,- Euro für Haushaltsstrom. Dieses Nutzungsgeld wurde vom Bezirk (Beigeladener zu 2) im Rahmen des Maßregelvollzugs bezahlt. Der Kläger war vor und während des Probewohnens durchgängig in der Arbeitstherapie der Forensik des B-Klinikums tätig, bis auf die Zeiten im September und November 2016, in denen er bei einem privaten Arbeitgeber in der Vollzugslockerung Außenbeschäftigung nach Art. 16 Abs. 2 Nr. 2 BayMRVG beschäftigt war.
Der Kläger beantragte am 23.08.2016 die Gewährung von Arbeitslosengeld II beim Beklagten und verwies auf das Probewohnen in der Wohngemeinschaft. Der Beklagte lehnte den Leistungsantrag mit Bescheid vom 09.09.2016 ab. Es bestehe gemäß § 7 Abs. 4 SGB II kein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II, weil der Kläger in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung untergebracht sei.
Der Kläger erhob dagegen Widerspruch, den er dahingehend begründete, dass er dauerhaft beurlaubt sei, um sich in einer eigenen Wohnung mit einer festen Tagesstruktur zu erproben. Dies diene seiner endgültigen Entlassungsvorbereitung und Resozialisierung. Er habe wöchentliche Einzelgespräche und eine 14-tägige Visite im Klinikum. Der Maßregelvollzug würde nur noch formal fortbestehen. Weiter teilte der Kläger mit, dass er im September an vier Arbeitstagen bei einer Zeitarbeitsfirma gearbeitet habe.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 07.11.2016 zurückgewiesen. Es bestehe ein Leistungsausschluss wegen richterlich angeordneter Freiheitsentziehung nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II. Auch bei eigenständigem Wohnen handle es sich um Maßregelvollzug. Die Rückausnahme der tatsächlichen Erwerbstätigkeit nach § 7 Abs. 4 S. 3 SGB II sei auf Satz 2 nicht anwendbar. Außerdem habe der Kläger nur an vier Tagen im September gearbeitet.
Die Vollzugslockerung Probewohnen wurde am 28.11.2016 abgebrochen. Der Kläger befindet sich seitdem wieder in der Forensik des Klinikums.
Der Kläger erhob ebenfalls am 28.11.2016 Klage zum Sozialgericht München. In der 32. Kalenderwoche (ab 08.08.2016) habe er vier mal in der therapeutischen Wohngemeinschaft übernachtet und damit überwiegend im Probewohnen.
Das Klinikum bestätigte die wochenweise Steigerung des Probewohnens um jeweils einen Tag und das durchgehende Wohnen in der Wohngemeinschaft ab dem 29.08.2016 (35. Kalenderwoche). Der Kläger erhielt während des Probewohnens vom Bezirk neben der Miete ein Verpflegungsgeld von 10,- Euro pro Tag bzw. von 404,- Euro pro Monat ab 14.11.2016. Auf das Verpflegungsgeld wurden aber die Waisenrente von 141,20 Euro und die Arbeitsbelohnung für die Arbeitstherapie angerechnet. Im August leistete der Kläger 106,5 Stunden Arbeitstherapie bei 149,10 Euro Belohnung (1,40 Eu...