Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten. Genehmigungsfiktion. keine Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung notwendig

 

Orientierungssatz

Die Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung ist als Voraussetzung für eine Genehmigung nach § 31 Abs 6 S 2 SGB 5 bzw als Voraussetzung für einen fiktionsfähigen Antrag nicht notwendig.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 20.03.2024; Aktenzeichen B 1 KR 24/22 R)

 

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 26.10.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5.6.2018 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin nach vertragsärztlicher Verordnung mit Cannabisblüten zu versorgen sowie ihr die nach Eintritt der Genehmigungsfiktion entstandenen Kosten i.Hv. 1.316,87 € zu erstatten. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Versorgung mit Cannabisblüten sowie die Kostenerstattung selbst beschaffter Cannabisblüten streitig.

Die Klägerin (geb. 1973) leidet an einer chronischen Schmerzerkrankung mit somatoformer Schmerzstörung und dem Hauptsymptom Rücken-Kreuzschmerzen nach vier Bandscheibenoperationen. Zudem besteht der Verdacht, dass die Klägerin an einer angeborenen Bindegewebsschwäche, dem Ehlers-Danlos-Syndrom leidet. Bei der Klägerin ist ein GdB von 80 anerkannt.

Am 18.7.2017 übersandte der und Vertragsarzt Dr. C. der Beklagten einen ausgefüllten Arztfragebogen wegen der beabsichtigten Verordnung von Cannabisblüten zur Inhalation (Dosis 50 g/Monat) an die Klägerin; dabei benannte er verschiedene Wirkstoffe, u.a. Bedrocan. Behandlungsziel sei die Reduktion der Schmerzen sowie der Spastik. Die Klägerin habe kurz zuvor die Behandlung mit Morphinen (Opiaten) beendet.

Die Beklagte bestätigte der Klägerin mit Schreiben vom 19.7.2017 den Eingang des Antrags auf Kostenübernahme für Cannabis und verwies darauf, dass sie eine Stellungnahme des MDK einholen werde. Der MDK forderte weitere Unterlagen an; die Klägerin übersandte am 10.8.2017 einzelne ärztliche Unterlagen. Nach Rücksprache mit der Arztpraxis vermerkte die Beklagte am 10.8.2017 auf dem Arztfragebogen, dass der Wirkstoff Bedrocan verordnet werden solle. Der MDK teilte in seiner Stellungnahme vom 25.8.2017 mit, dass anhand der vorliegenden Unterlagen die Anfrage nicht abschließend geklärt werden könne. Die Beklagte teilte der Klägerin mit Schreiben vom 1.9.2017 mit, dass ihr Antrag auf Kostenübernahme für Cannabis am 10.8.2017 bei ihr eingegangen sei. Nachdem der Antrag unvollständig sei, könne sie nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen fünf Wochen entscheiden. Sie bat daher um die Einreichung vollständiger Unterlagen bis zum 15.9.2017 und informierte die Klägerin, dass sie bis spätestens 16.10.2017 eine Rückmeldung zu ihrem Antrag erhalten werde.

Der MDK kam in seinem Kurzgutachten vom 25.10.2017 zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin eine chronische Schmerzerkrankung mit dokumentiertem Stadium III nach Gerbershagen, eine somatoforme Schmerzstörung, ein depressives Syndrom sowie Opiatabhängigkeit bestehe. Inwiefern allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen und Behandlungsoptionen ausgeschöpft worden seien, sei anhand der Unterlagen nicht ersichtlich.

Mit Bescheid vom 26.10.2017 teilte die Beklagte der Klägerin hinsichtlich ihres Antrags vom 18.7.2017 mit, dass die Kosten für die Therapie mit Cannabis nicht übernommen werden könnten und verwies auf das beigefügte Gutachten des MDK. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch.

In seinem Gutachten vom 18.1.2018 stellte der MDK fest, dass eine die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung vorliege. Es gehe aus den Unterlagen nicht hervor, dass die Klägerin eine ambulante multimodale schmerztherapeutische Behandlung unter Berücksichtigung der psychischen und somatischen Faktoren durchführe; ebenso wenig, dass die bei neuropathischen Schmerzen möglichen medikamentösen Maßnahmen umfänglich zur Anwendung kämen. Im Entlassungsbericht 5/17 werde eine Opiatabhängigkeit diagnostiziert und eine suchtmedizinische Behandlung empfohlen. Aus den Unterlagen gehe nicht hervor, dass diese stattgefunden habe. Die Klägerin habe mittlerweile die Opiateinnahme beendet und durch die Einnahme von Cannabinoiden ersetzt. Es sei nicht nachvollziehbar, dass bei der diagnostizierten Suchterkrankung das Suchtmittel durch ein anderes Suchtmittel ersetzt werden solle und nicht vorrangig suchtmedizinische Maßnahmen im Rahmen eines schmerztherapeutischen multimodalen Gesamtkonzeptes durchgeführt würden. Insgesamt sei es nicht plausibel nachvollziehbar, warum der beantragende Arzt zur Einschätzung komme, dass allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen nicht zur Verfügung stünden oder nicht zur Anwendung kommen könnten.

Der Klägerinvertreter wies in seiner Erwiderung darauf hin, dass ein erheblicher zeitlicher Abstand zwischen dem Ende der Morphi...

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