Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Untätigkeitsklage. Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts. Handlungsunfähigkeit. Möglichkeit einer Genehmigung durch den gesetzlichen Vertreter. keine Rückmeldung nach Ablauf der Zweiwochenfrist

 

Orientierungssatz

1. Von nicht handlungsfähigen Personen im Sinne des § 11 SGB 10 vorgenommene Handlungen sind nicht nichtig, sondern nicht rechtswirksam bzw schwebend unwirksam und können nachträglich genehmigt werden.

2. Die Behörde hat die Möglichkeit, sich an einen (gesetzlichen) Vertreter zu wenden oder, falls dieser nicht vorhanden ist, um die Bestellung eines solchen nach § 15 SGB 10 zu ersuchen, dem dann die Möglichkeit der Genehmigung der Verfahrenshandlung eingeräumt werden kann.

3. Fordert die Behörde den Vertreter zur Erklärung der Genehmigung auf und erhält sie nach Ablauf von zwei Wochen nach Empfang der Aufforderung keine Rückmeldung, gilt die Genehmigung in entsprechender Anwendung des § 108 Abs 2 S 2 BGB als verweigert.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 27.07.2021; Aktenzeichen B 8 SO 10/19 R)

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Berufung wird zugelassen.

Die Sprungrevision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt eine Bekleidungsbeihilfe für den Winter 2019/2020.

Der Kläger ist 1948 in Bulgarien geboren, ledig, alleinstehend und lebt in einer Mietwohnung. Er leidet an einer multiplen Paraspastik, die zu erheblichen Mobilitätseinschränkungen führt. Zur Fortbewegung bedient er sich zweier Unterarmgehstützen. Bis zum 30.05.2013 bezog er vom Jobcenter N. (ab 2012 als zugelassener kommunaler Träger nach § 6a SGB II) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Seit Erreichen der Regelaltersgrenze erhält er weder laufende Leistungen nach dem SGB II noch nach dem SGB XII. Von 1996 bis 2008 hat er vor dem Sozialgericht Münster insgesamt 146 Klage- und einstweilige Rechtschutzverfahren geführt, von 2009 bis 2011 weitere 180. Aktuell sind es insgesamt mehr als 670 Verfahren allein vor dem Sozialgericht Münster. Zur Frage der Prozess- und Geschäftsfähigkeit sowie zur Frage der Einrichtung einer Betreuung für den Kläger wurden verschiedene Gutachten eingeholt (Gutachten von Dr. F., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, S., vom 07.10.2011 im Verfahren L 7 AS 326/11 B u.a. beim LSG NRW und vom 25.11.2016 im Verfahren L 20 SO 384/15 beim LSG NRW, Gutachten von Dr. S., Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, N., vom 08.05.2012 im Verfahren 27 XVII K 1153 beim Amtsgericht N.), auf deren Inhalt Bezug genommen wird, ferner wurden die Sachverständigen Dr. F. und Dr. S. in der nicht-öffentlichen Sitzung des LSG NRW vom 22.08.2012 sind Dr. F. und Dr. S. zur Erläuterung ihrer Gutachten angehört (L 7 AS 326/11 B, L 20 SO 63/11). Auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.

Am 15.03.2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erstattung der Kosten für Bekleidungsbedarf für den Winter 2019/2020. Die Beklagte ersuchte daraufhin das Amtsgericht N. um die Bestellung eines Vertreters von Amts wegen gem. § 15 SGB X (Schreiben vom 19.03.2019). Der Kläger sei - ausweislich des Urteils des LSG NRW vom 16.10.2017 - nicht mehr in der Lage, für sich selbst im Verfahrensverfahren tätig zu werden. Für dieses Verfahren möge ein Vertreter bestellt werden.

Mit Beschluss vom 03.04.2019 (27 XVII 398/18) bestellte das Amtsgericht N. Herrn Rechtsanwalt L.C., N., zum Betreuer des Klägers u.a. auch für den Aufgabenkreis Behördenangelegenheiten (Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern einschließlich Gerichten) und in Vermögensangelegenheiten, für letztere ordnete es einen Einwilligungsvorbehalt an. Es stützte seine Entscheidung auf ein Gutachten von Dr. S. vom 17.02.2019 nach persönlicher Begutachtung des Klägers im Rahmen einer betreuungsgerichtlichen Vorführung am 25.01.2019. Auf den Inhalt des Gutachtens wird Bezug genommen. Auf die Beschwerde des Klägers hob das Landgericht N. die Betreuung - während des laufenden Klageverfahrens - am 29.07.2019 wieder auf (Beschluss vom 29.07.2019 - 05 T 298/19). Der Kläger sei betreuungsunfähig.

Mit Schreiben vom 22.05.2019 übersandte die Beklagte dem Betreuer eine Aufstellung über 14 Anträge des Klägers, über die die Beklagte noch nicht entschieden hatte, darunter auch der Antrag vom 15.03.2019, und fügte den jeweiligen Schriftverkehr (für die hier streitige Winterbekleidungsbeihilfe 9 Blatt „Verwaltungsakte“) bei. Sie bat den Betreuer um Rückmeldung, welche Anträge aufrechterhalten und welche zurückgezogen werden. Der Betreuer antwortete hierauf bis zur Aufhebung der Betreuung nicht.

Am 13.06.2019 hat der Kläger Klage erhoben. Das Gericht hat die Klage dem Betreuer des Klägers übersandt mit der Bitte um Prüfung, ob der Rechtsstreit aufrechterhalten bleibt. Der Betreuer hat sich bis zur Aufhebung der Betreuung nicht in der Sache eingelassen.

Das Gericht hat nach Anhörung des Klägers mit Beschluss vom 02.09.2019 diesem einen besonderen Vertreter nach § ...

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