Orientierungssatz
Parallelentscheidung zum Beschluss des SG Nürnberg vom 29.4.2020 - S 20 SO 63/20 ER, welcher vollständig dokumentiert ist.
Tenor
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, ab dem 18.06.2020 die Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs (Deutsche Gebärdensprache, DGS) durch die A., A-Stadt, als Leistungserbringerin vorläufig und vorbehaltlich einer Entscheidung des Klageverfahrens S 20 SO 106/20 in erster Instanz vor dem Sozialgericht N. zu übernehmen, und zwar in einem zeitlichen Umfang von maximal wöchentlich 1,5 Stunden (90 Minuten) zu einem Stundenhöchstsatz von € 50,00 pro Stunde (60 Minuten, einschließlich sämtlicher Nebenkosten und der An- oder Abfahrtskosten der Unterrichtenden) bis zum Abschluss einer Leistungs- und Vergütungsvereinbarung im Sinne des § 125 SGB IX zwischen dem Antragsgegner und der A. A., ab Abschluss einer solchen Leistungs- und Vergütungsvereinbarung in Höhe der darin enthaltenen Vergütungssätze.
II. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
III. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu zwei Dritteln dem Grunde nach.
IV. Gerichtskosten werden für das Verfahren nicht erhoben.
Gründe
Die Beteiligten streiten im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes um die Kostenübernahme für einen Hausgebärdensprachkurs (DGS) durch den Antragsgegner für den Antragsteller im Rahmen der Sozialen Teilhabe.
I.
Der am xx.xx.xxxx geborene Antragsteller ("AS") leidet vermutlich seit seiner Geburt an einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit. Im November 2016 wurde er rechts und im Februar 2017 links mit Cochlear-Implantaten ("CI") versorgt. Die Nachsorge erfolgte über das Cochlear-Implantatzentrum E. ("CICERO")
Er ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung ("GdB") von 100 und mit den Merkzeichen "G", "B", "H", "RF" und "Gl".
Seitens des Antragsgegners ("AG") erhielt und erhält der Antragsteller Eingliederungshilfe in Form interdisziplinärer Frühförderung am Zentrum für Hörgeschädigte in N. Seit September besuchte der AS die integrative Kinderkrippe "D." in N. mindestens vier Stunden täglich wofür der AG ebenfalls im Rahmen der Eingliederungshilfe die Kosten übernimmt. Seit September 2019 besucht der AS den "Kindergarten, U., A-Stadt" als integrative Kindertagesstätte in Kostenträgerschaft durch den AG (Übernahme der Kosten für 10 Fachdienststunden im Rahmen der Eingliederungshilfe).
Am 13.03.2019 beantragte der AS beim AG die Kostenübernahme für einen Hausgebärdensprachkurs als persönliches Budget in einem Umfang von 2 Stunden pro Woche in Höhe von € 65,00 pro Stunde bei der A. in N. bis zur Erlangung einer guten Gebärdensprachkompetenz.
Zur Begründung führten die Eltern des AS aus, dass trotz dessen CI-Versorgung viele Situationen entstanden seien, in denen der AS auf das Verstehen der Gebärdensprache angewiesen sei, damit die Eltern ihn vor Schaden hätten bewahren können, so zum Beispiel bei zwei Unfällen im Hallenbad. Jedoch hätten sich auch in alltäglichen Situationen sehr oft Momente ergeben, in denen auf Grund des jeweiligen Geräuschpegels im Raum eine lautsprachliche Unterhaltung erschwert würde und zur Aufrechterhaltung der Kommunikation auf Gebärdensprache zurückgegriffen werden müsse.
Auch nach anstrengenden Krippentagen nehme der AS gerne zu Hause zur Entspannung und Erholung das CI ab, da es als CI-Träger mit großer geistiger Anstrengung verbunden sei, allem folgen zu können. Insbesondere in diesen Momenten sei die Verwendung von Gebärdensprache extrem wichtig, um eine Kommunikation weiterhin zu ermöglichen.
Darüber hinaus würden die Eltern gerne dem AS die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, ob er sich in der Welt der Gehörlosen oder der der Hörenden besser zurechtfindet.
Man merke jedoch, dass die seitens der Mutter seit Geburt des AS und auf eigene Kosten und Initiative angeeigneten Kenntnisse der Deutschen Gebärdensprache ("DGS") nicht mehr ausreichen würden. Der AS brauche nun professionelle Unterstützung in Gebärdensprache, da er einen starken Wissensdrang habe, den die Eltern nicht mehr befriedigen könnten.
Ein Kostenübernahmeantrag beim örtlichen Jugendamt sei nicht gestellt worden.
Am 25.10.2019 fand eine Hospitation im Kindergarten F., A-Stadt mit anschließender Personenkonferenz statt. Aufgrund dieser erstellte der Sozialpädagogisch-medizinische Dienst des AG am 18.12.2019 eine Stellungnahme:
Der AS zeige sich im Gruppengeschehen als zufriedener, offener, recht eigenständiger Junge und habe sich bereits gut in den (für ihn neuen) Kindergarten eingelebt. Grundsätzlich nutze er seine CI und teile sich lautsprachlich auf verständliche Weise mit. Es sei von kontinuierlichen Fortschritten im sprachlichen Bereich berichtet worden.
Insgesamt gehe aus der Personenkonferenz hervor, dass die Eltern durch den Gebärdenkurs (DGS) für den AS die Möglichkeit schaffen möchten, später selbst entscheiden zu können, welchem Gehörkreis - hörend oder gehörlos - der AS sich...