Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattungsstreit. Heimunterbringung eines seelisch behinderten Kindes. Kindeswohlgefährdung als alleiniger Grund. keine Erforderlichkeit der Heimunterbringung wegen Teilhabebeeinträchtigung. alleinige Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers. keine Zuständigkeitsabgrenzung zum Eingliederungshilfeträger

 

Orientierungssatz

1. Ist Anlass und Grund für die Heimunterbringung eines seelisch behinderten Kindes einzig und allein der Erziehungsausfall der Mutter, welche zu einer Inobhutnahme wegen Kindeswohlgefährdung geführt hat, hat der Jugendhilfeträger die Unterbringungskosten im Rahmen der Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 33, 34 SGB 8 bzw § 42 Abs 2 SGB 8 in originärer eigener Zuständigkeit zu übernehmen.

2. Ist eine Heimunterbringung des seelisch behinderten Kindes wegen Teilhabebeeinträchtigungen überhaupt nicht in Betracht zu ziehen, kommt es auf die Kollisionsregelungen zur Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Jugendhilfeträger und Eingliederungshilfeträger (hier: § 10 Abs 4 S 2 SGB 8 iVm Art 64 Abs 2 S 1 SGAG BY) nicht an.

 

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

 

Tatbestand

Der Erstattungsstreit wird zwischen dem Jugendhilfeträger (Klägerin) und dem Eingliederungshilfeträger (Beklagter) geführt. Es ist zwischen den Beteiligten die sachliche Zuständigkeit für die Unterbringungskosten eines noch nicht eingeschulten, seelisch behinderten Kindes nach Inobhutnahme bei Kindeswohlgefährdung streitig.

Der Hilfeempfänger, geboren 2016, wurde wegen Überforderung der Mutter und Kindeswohlgefährdung ab dem 10.10.2019 vom zuständigen Jugendamt in Obhut genommen, nachdem diese eine Fremdunterbringung ihres Sohnes beantragt hatte. Sie leidet an einer Persönlichkeitsstörung, dysthymen Verstimmung sowie posttraumatischen Belastungsstörung und befindet sich in psychotherapeutischer Behandlung. Deshalb erhält sie Unterstützung durch ein persönliches Budget und steht unter gesetzlicher Betreuung. Es wurde von den behandelnden Ärzten abgeraten, Mutter und Kind alleine in der Wohnung zu lassen. Der Hilfeempfänger selbst hat nach den Feststellungen von Dr. V. eine seelische Behinderung. Eine geistige oder körperliche Behinderung schloss dieser ausdrücklich aus.

Das Jugendamt sorgte im Anschluss an die Inobhutnahme für die Betreuung des Hilfeempfängers. Ab dem 26.02.2020 wurde er "als Maßnahme der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder nach § 35a SGB VIII" in einer Pflegefamilie betreut. Nach einem Wohnungsbrand musste er jedoch schon nach wenigen Tagen von dort in eine Kindernotwohnung umziehen, bis schließlich ein Platz in einem sozialpädagogischen Kinderhaus organisiert werden konnte.

Mit Schreiben vom 02.03.2020 forderte der klagende Jugendhilfeträger den beklagten Bezirk zur Fallübernahme auf und machte dem Grunde nach die Kostenerstattung geltend, weil seiner Auffassung nach bei Frühforderung vor dem individuellen Schuleintritt nach Art. 64 Absatz 2 des Bayerischen Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (BayAGSG) vom 8. Dezember 2006 der überörtliche Sozialhilfeträger allumfassend zuständig sei, unter anderem auch für die Heimunterbringung. Der Eingliederungshilfeträger wies die Fallübernahme und Anerkennung einer Erstattungspflicht jedoch zurück. Der Hilfeempfänger sei zwar rein seelisch und nicht körperlich oder geistig behindert sowie im Vorschulalter, so dass grundsätzlich eine Zuständigkeit nach dieser bayerischen Sondervorschrift in Betracht kommen könnte. Im vorliegenden Fall sei der Hilfeempfänger aber aus rein erzieherischen Gründen aus seiner Familie genommen und untergebracht worden, so dass trotzdem der Jugendhilfeträger für die Heimunterbringung zuständig sei.

Im Juli 2020 kam der Hilfeempfänger in den Kindergarten. Der Beklagte übernimmt seitdem im Rahmen der Eingliederungshilfe die Förderung von 50 Fachdienststunden pro Jahr. Dem Hilfeplan kann entnommen werden, dass sich der Hilfeempfänger sehr schnell eingewöhnt habe, gut mitarbeite, in der Gruppe von allen akzeptiert werde und teilweise schon sehr selbständig geworden sei. Auch aus den weiteren vorliegenden Stellungnahmen/Berichten der Kindertageseinrichtung ist ersichtlich, dass er sich sehr positiv entwickelt hat.

Am 19.08.2021 hat die Klägerin beim Sozialgericht Nürnberg Klage erhoben. Sie begehrt eine Erstattung der im Zeitraum 26.02.2020 bis 30.06.2021 geleisteten Unterbringungskosten in Höhe von 80.200,15 EUR sowie die Feststellung, dass der beklagte Bezirk bis zum individuellen Schuleintritt des Hilfeempfängers sachlich zuständig sei. Zur Begründung verweist sie darauf, dass nach Art. 64 Abs. 2 AGSG die Maßnahmen der Frühförderung für Kinder unabhängig von der Art der Behinderung von den Trägern der Eingliederungshilfe nach Vorschriften des SGB IX zu gewähren seien. Der Hilfeempfänger sei im Übrigen nicht aus rein erzieherischen Gründen untergebracht worden, sondern zumindest auch wegen seiner Teilhabebeeinträchtigungen. Der Hilfebedarf dürfe nicht unzulässig aufgespa...

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