Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Jugendhilfeträgers gegen den vorrangig verpflichteten Sozialhilfeträger. Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie. Kongruenz mit der Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege nach dem SGB 8
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Kongruenz von Hilfen zur Erziehung in Vollzeitpflege nach dem SGB VIII und Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Kinder und Jugendliche nach dem SGB XII in Form von Hilfen für die Betreuung in einer Pflegefamilie.
2. Hilfe zur Erziehung kann ebenso eine Eingliederungshilfeleistung sein.
Tenor
1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin wegen der in der Zeit vom 01.03.2012 bis 31.12.2016 für die Unterbringung von J. M. in der Pflegefamilie W.-H./W. entstandene Kosten von 189.448,44 € zu erstatten.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird für die Zeit bis einschließlich 28.09.2016 auf 89.288,77 €, ab 29.09.2016 auf 175.431,70 € und für die Zeit ab 14.02.2017 auf 189.448,44 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, wer die Kosten für die Unterbringung des J. M. zu tragen hat.
J. M. (im Folgenden: Hilfeempfänger) ist am … 2009 in S. geboren und leidet an Trisomie 21, sogenanntes Down-Syndrom. Bei ihm besteht eine Intelligenzminderung mit Verhaltensstörung, eine Artikulations- und Sprachentwicklungsstörung, Knick-Senk-Füße beidseits mit Muskelhypotonie und Strabismus convergens beidseits sowie eine Verhaltensstörung mit ADHS-Symptomatik bei Down-Syndrom, die sich in einer geringen Ausdauer, Hyperaktivität und hoher Impulsivität ausdrückt. In einer fachärztlichen Stellungnahme des Sozialpädiatrischen Zentrums, Außenstelle P., vom 15.03.2012 verneinte der Diplompsychologe B. eine drohende seelische Behinderung ausdrücklich. Gemeinsam mit dem Kinder- und Jugendarzt Dr. H. gab er an, der Hilfeempfänger benötige eine komplette Versorgung im Alltag bei einem allgemeinen Entwicklungsrückstand von etwas weniger als der Hälfte des Lebensalters, die gesamte Entwicklung sei beeinträchtigt, ein lebenslanger Hilfebedarf sei anzunehmen.
Bei dem Hilfeempfänger ist ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen “G„, “B„ und “H„ festgestellt. Die zuständige Pflegekasse gewährt Leistungen nach der vormaligen Pflegestufe II.
Zurzeit besucht der Hilfeempfänger die 2. Klasse der A.-L.-Schule in P., eine Förderschule mit den Schwerpunkten ganzheitliche Entwicklung, Lernen und Sprache, im Förderschwerpunkt ganzheitliche Entwicklung.
Für die in S. lebende, sorgeberechtigte Mutter des Hilfeempfängers ist wegen einer geistigen Behinderung eine Betreuung eingerichtet. Sie erhält von dem Beklagten Eingliederungshilfeleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) in Form eines ambulanten betreuten Wohnens.
Ab der Geburt des Hilfeempfängers gewährte der Regionalverband S. seiner Mutter Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27, 33 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII), da eine dem Wohl des Hilfeempfängers entsprechende Erziehung bei der leiblichen Mutter nicht gewährleistet und die Hilfe für die Entwicklung des Kindes geeignet und notwendig sei. Der Hilfeempfänger war zunächst in einer Pflegefamilie in R. untergebracht, seit dem 01.03.2010 in einer von der Diakonie D. getragenen, professionellen Pflegestelle bei Familie H./H.-W. in W., im Zuständigkeitsbereich der Klägerin. Bezüglich dieser Unterbringung gewährte der Regionalverband S. der Kindsmutter durch Bescheid vom 03.05.2010 Hilfe zur Erziehung ab dem Aufnahmetag.
Mit Schreiben vom 04.03.2011 und 03.05.2012 machte der Regionalverband S. gegenüber dem Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch gemäß §§ 102 ff Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) geltend und forderte den Beklagten als überörtlichen Sozialhilfeträger zur Fallübernahme auf. Da es sich um ein geistig behindertes Kind handele, das immer auf Hilfe angewiesen sein werde, sei nicht Hilfe zur Erziehung zu leisten. Der Hilfeempfänger sei auf Grund seines Behinderungsprofils wesentlich in der Fähigkeit an der Gesellschaft teilzunehmen eingeschränkt, so dass ein Anspruch auf Eingliederungshilfe gemäß § 53 SGB XII bestehe. Die Gründe der Hilfegewährung seien unerheblich. Es komme nicht darauf an, ob der Hilfebedarf ausschließlich durch die geistige Behinderung des Hilfeempfängers bedingt sei oder ob andere Umstände, wie der Ausfall der elterlichen Betreuungsleistung, für den Umfang des Hilfebedarfs mitursächlich seien. Die vollstationäre Unterbringung sei sowohl Leistungsgegenstand der Eingliederungshilfe als auch Inhalt der Kinder- und Jugendhilfe, und zwar vollständig deckungsgleich. Damit werde im konkreten Fall der Vorrang der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ausgelöst.
Der Beklagte lehnte eine Kosten- und Fallübernahme wegen fehlender Zuständigkeit ab. Der Hilfeempfänger erhalte ausschließlich Erziehungshilfe und keine Eingliederungshilfeleistungen. ...