Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Eingliederungshilfe. Budget für Arbeit. Werkstattfähigkeit. Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung. keine berufsbildende Maßnahme. Erwerb der erforderlichen Leistungsfähigkeit durch Praktika und ehrenamtliche Tätigkeiten ausreichend. keine Befristung der Leistungsbewilligung
Orientierungssatz
1. Die Voraussetzung, dass der schwerbehinderte Mensch in der Lage ist, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen (Werkstattfähigkeit nach § 58 Abs 1 S 1 SGB 9 2018), kann auch dann erfüllt sein, wenn der schwerbehinderte Mensch zu 15 % leistungsfähig ist (vgl auch BSG vom 7.12.1983 - 7 RAr 73/82 = SozR 4100 § 58 Nr 14).
2. Unter Berücksichtigung der UN-Behindertenrechtskonvention (juris: UNBehRÜbk) ist die Verneinung der Werkstattfähigkeit nur unter strengen Voraussetzungen möglich.
3. Das Merkmal der "Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt" iS des § 58 Abs 1 S 2 Halbs 2 SGB 9 2018 ist weit auszulegen und umfasst auch unbezahlte Praktika und ehrenamtliche Tätigkeiten.
4. Eine zeitliche Begrenzung des Budgets für Arbeit nach § 61 SGB 9 2018 ist gesetzlich nicht vorgesehen.
Tenor
I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 27.07.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019 verurteilt, dem Kläger für seine Beschäftigung im Haus für Kinder und Familien in I. ab dem 01.03.2019 unbefristet ein Budget für Arbeit nach § 61 SGB IX wie folgt zu gewähren:
a) Minderleistungsausgleich in Form eines Lohnkostenzuschusses an den Arbeitgeber in Höhe von 75 % des vom Arbeitgeber regelmäßig gezahlten Arbeitsentgelts, höchstens jedoch von 48 % der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV,
b) Betreuungsaufwendungen für die wegen der Behinderung erforderliche Anleitung und Begleitung am Arbeitsplatz im Umfang von derzeit 3 Stunden und 55 Minuten pro Arbeitstag.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Der Rechtsstreit wird im Zusammenhang mit besonderen Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen (Eingliederungshilferecht) nach dem Zweiten Teil Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch (SGB IX) geführt. Es ist zwischen den Beteiligten im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ein Budget für Arbeit streitig.
Der 1997 geborene Kläger ist infolge einer Trisomie 21-Erkrankung sowie Diabetes Mellitus Typ 1 mit einem GdB von 100 schwerbehindert. Er arbeitet seit mehreren Jahren im Haus für Kinder und Familien "D." in I. (Träger: Kirchengemeinde I.) und hilft dort im hauswirtschaftlichen Bereich der Kita mit. Noch während des Schulbesuches (also vor 2017) absolvierte er wöchentlich dort einen Praxistag. Kurz vor dem Ende seiner Schulpflicht machte er dann vom 15.05.2017 bis zum Schuljahresende ein Schülerpraktikum. Vom 12.09.2017 bis 28.02.2018 weitete er dies als unbezahltes Praktikum mit einer 20 Std.-Woche aus. Ab dem 01.03.2018 war er sodann im selben Umfang dort unbezahlt ehrenamtlich tätig.
Der Kita-Träger bot dem Kläger nach einiger Zeit ein voll versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis mit 20 Std. pro Woche bei ortsüblicher Entlohnung für ungelernte Arbeitskräfte an. Der Kläger sei während der Praktika erfolgreich in die Einrichtung integriert worden. Man habe Fortschritte beobachtet und er erbringe ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung. Davon profitiere die Einrichtung im hauswirtschaftlichen Bereich sowie im Rahmen der Vermittlung gelebter Inklusion gegenüber Kindern und Eltern. Wegen seines stark verringerten Arbeitstempos sei jedoch ein Minderleistungsausgleich von 75% nötig. Außerdem müsse der Kläger wegen seiner Defizite in Kommunikationsfähigkeit, Konzentration und Informationsverarbeitung gerade zu Beginn des Arbeitsverhältnisses bei der Arbeit intensiv durch eine Assistenzkraft angeleitet und begleitet werden.
Die Mutter des Klägers beantragte am 22.12.2017 und 18.05.2018 für ihren Sohn ein Budget für Arbeit als Leistung der Eingliederungshilfe ab 01.03.2018 in Form eines Lohnkostenzuschusses von 75% sowie für den von ihr selbst organisierten Betreuungsaufwand in Höhe von monatlich 1.237,20 EUR. Der Beklagte teilte formlos mit, dass ein Budget für Arbeit nicht in Betracht komme, weil der Kläger vorab eine berufliche Ausbildung durchlaufen müsse.
Aus der sozialmedizinischen Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit vom 28.02.2018 ergibt sich, dass der Kläger kein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt habe. Die Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) sei angezeigt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eingliederung in eine WfbM lägen vor (Seite 1 der Stellungnahme). Alternativ zur WfbM könne der Kläger aus sozialmedizinischer Sicht aber auch für 20 Std. pro Woche in dem speziellen und vertrauten Setting des Kindergartens arbeiten, ggf. mit einer Assistenzkraft. Die Möglichkeit, dort in einem versicherungspf...