Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. dauerhafte volle Erwerbsminderung. Durchlaufen des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs einer Werkstatt für behinderte Menschen
Orientierungssatz
Die Vorschrift des § 45 S 3 Nr 3 Alt 1 SGB 12 ist in verfassungskonformer Weise dahingehend auszulegen, dass sie das Vorliegen einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung widerleglich vermutet.
Tenor
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2018 verurteilt, der Klägerin ab dem 01.09.2017 bis vorerst 30.11.2019 laufende Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel SGB XII dem Grunde nach in gesetzlicher Höhe zu gewähren und zu bezahlen.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach.
III. Gerichtskosten werden für das Verfahren nicht erhoben.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung laufender Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII).
I.
Die 1999 geborene Klägerin steht unter gesetzlicher Betreuung ihrer Eltern.
Sie bewohnt zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwester eine den Eltern gehörende Eigentumswohnung, Baujahr 1899, von 100 m² und vier Zimmern mit Gaszentralheizung. Die Gesamtkosten der Unterkunft betragen monatlich € 1.812,30, davon Finanzierungskosten in Höhe von € 1.560,00 und Nebenkosten in Höhe von € 252,30.
Die Eltern sind als Landwirte selbständig tätig.
Die Klägerin leidet an einer psychomotorischen Entwicklungsstörung, Sehminderung beidseits und Hydrozephalus (mit Ventil versorgt). Aufgrund dessen hat sie einen Grad der Behinderung von 80 sowie die Merkzeichen B, G und H (letzteres bis zum 18. Lebensjahr).
Am 18.04.2017 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung laufender Leistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII.
Sie besuche noch bis zum 31.07.2017 das Berufsvorbereitungsjahr im W. in A., danach die Tagesstätte und werde vom Fahrdienst nach Hause gebracht. Kostenträger hierfür sei der Bezirk M..
Aufgrund ihrer Behinderung sei die Klägerin dauerhaft voll erwerbsgemindert. Dies gehe aus einer gutachterlichen Stellungnahme vom 07.02.2017 des Dr. K. vom ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit ("BA") hervor. Danach sei die Klägerin voraussichtlich auf Dauer nur noch in der Lage, unter drei Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Eine angedachte Eingliederung in eine geeignete Werkstatt für behinderte Menschen ("WfbM") sei aus sozialmedizinischer Sicht zu befürworten.
Zum 01.09.2017 sei zudem die Aufnahme in eine WfbM geplant, genauer im Eingangs- (drei Monate) und sodann im Berufsbildungsbereich (24 Monate) in den R.-Werkstätten gGmbh. Die Maßnahme dauere bis 30.11.2019.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 20.07.2017 lehnte die Beklagte die Gewährung laufender Leistungen nach dem Dritten oder Vierten Kapitel SGB XII ab. Nach § 21 SGB XII würden Personen, die nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt seien, keine Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten. Eine Leistungsgewährung nach dem SGB XII sei also immer nachrangig gegenüber Leistungen nach dem SGB II. Personen, die zur Bedarfsgemeinschaft gehören würden, würden Leistungen nach dem SGB II erhalten (§ 7 SGB II).
Neben den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten würden auch die dem Haushalt angehörenden, unverheirateten Kinder zur Bedarfsgemeinschaft gehören, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen könnten (§ 7 Abs. 3 SGB II). Nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II würden nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben würden, Sozialgeld erhalten, soweit sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII hätten. Die Klägerin gehöre zusammen mit ihren erwerbsfähigen Eltern und ihrer Schwester einer solchen Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II an. Laufende Leistungen nach dem Dritten Kapitel SGB XII seien daher bereits deswegen ausgeschlossen. Auch sei seitens des Rentenversicherungsträgers eine volle Erwerbsminderung auf Zeit nicht festgestellt worden.
Aber auch für Leistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII seien die Voraussetzungen nicht erfüllt. Nach § 41 Abs. 3 SGB XII seien nach dem Vierten Kapitel leistungsberechtigt diejenigen, die das 18. Lebensjahr vollendet hätten und unabhängig von der Arbeitsmarktlage auf Dauer voll erwerbsgemindert seien im Sinne des § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI). Zum jetzigen Zeitpunkt sei eine dauerhafte, volle Erwerbsminderung vom Rentenversicherungsträger nicht bindend festgestellt, so dass die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung nach dem Vierten Kapitel SGB XII noch nicht gegeben seien. Bis zur Feststellung der dau...