Entscheidungsstichwort (Thema)
gesetzliche Unfallversicherung. Beitragsrecht. Zuschlags-Nachlassverfahren. Satzung. Anzahl und abstrakte Schwere der Versicherungsfälle. Verletzung des Übermaßverbotes
Orientierungssatz
Zur Verletzung des Übermaßverbotes im Rahmen eines Zuschlags-Nachlassverfahrens (hier: nach Zahl und abstrakter Schwere der Versicherungsfälle), wenn der Beitragszuschlag im konkreten Fall die tatsächlichen Aufwendungen für die Versicherungsfälle mehr als das Zehnfache übertrifft.
Nachgehend
Tatbestand
Die Klägerin wehrt sich gegen einen Beitragszuschlag.
Nach § 162 Abs. 1 SGB VII ist die Beklagte gesetzlich verpflichtet, unter Berücksichtigung der anzuzeigenden Versicherungsfälle Beitragszuschläge aufzuerlegen oder Beitragsnachlässe zu bewilligen. Sinn der Vorschrift ist es, die Unternehmen zur Unfallverhütung anzuhalten, und (erst) seitdem eine entsprechende Regelung in die RVO aufgenommen worden war, ist die Zahl der Arbeitsunfälle in der Bundesrepublik tatsächlich auch statistisch signifikant zurückgegangen. Das Nähere bestimmt die Satzung, wobei gesetzlich (nur) vorgegeben ist, daß auf die Zahl oder die Schwere der Versicherungsfälle oder die Aufwendungen für sie oder auf eine Kombination vorgenannter Merkmal abzustellen ist.
Die Beklagte stellte zuletzt auf die Zahl der Versicherungsfälle und ihrer (konkreten) Kosten ab. Zum 01.01.2001 gestaltete die Beklagte das Zuschlags-Nachlaß-Verfahren dahingehend um, daß nun Zahl und (abstrakte) Schwere der Versicherungsfälle entscheidend sind. Dabei werden vier Schweregrade festgelegt:
- einmalige Vorstellung beim Arzt mit Verordnung von Salben etc. bei Kosten von weniger als 200,00 DM, jetzt 100,00 Euro
- darüber hinausgehende ärztliche Maßnahmen mit entsprechend höheren Kosten ("normaler Versicherungsfall")
- Rentenentschädigungsfall
- Versicherungsfall mit Todesfolge.
Auf die konkreten Aufwendungen, z. B. nach der Höhe oder der Laufzeit einer Rente kommt es mithin jetzt nicht mehr an. Vielmehr wird jedem Schweregrad ein einziger fester Multiplikationsfaktor (Belastungseinheiten - BE -) zugeordnet, z. B. für die zweite Gruppe 0,99 BE und für die dritte Gruppe 20 BE, so daß 20 "normale Versicherungsfälle" pauschal einen Rentenfall aufwiegen. Die sich ergebende Eigenbelastung des Unternehmens wird dann mit der Durchschnittsbelastung aller Mitgliedsunternehmen der Beklagten verglichen, die entsprechenden Abweichungen nach oben oder unten werden in Prozentstufen mit einer ebenfalls gestuften prozentualen Beitragserhöhung oder -ermäßigung bedacht (max. 30 %), wobei eine Abweichung von 31 % - 35 % z. B. eine Beitragsänderung von 15 % ergibt. Viele "normale Versicherungsfälle" können dabei dann zu einer deutlichen Beitragsbelastung führen, obwohl die tatsächlich für sie angefallenen Kosten vergleichsweise niedrig sind, während ein Rentenentschädigungsfall mit einer Dauervollrente demgegenüber beitragsrechtlich kaum und auf lange Sicht gar nicht ins Gewicht fällt (einmaliger Ansatz im Jahr des Beschlusses des Rentenausschusses).
Die Beklagte rechtfertigt auf der Grundlage der rechtlichen Vorgaben ("oder") ihre Satzung mit der Ermessenserwägung, Unternehmen mit dem jetzigen Verfahren zur Unfallverhütung anzuspornen, das heißt dazu anzuhalten, auch leichte Arbeitsunfälle von vorn herein zu vermeiden. Ein anzuzeigender Versicherungsfall sei sozusagen nur die Spitze des Eisberges, die ein bedenkliches Sicherheitsniveau im Unternehmen aufzeige. Bei gleichem Unfallhergang sei es letztlich auch nur ein Zufall, mit welchen Kosten er sich auswirke.
Seit Einführung des neuen Verfahrens ist bei der Beklagten ein deutlicher Rückgang der anzuzeigenden Arbeitsunfälle zu verzeichnen. Unternehmerseits wird vorgebracht, daß Fälle der Schweregrade 1 und 2 als häusliche Unfälle deklariert würden, um Beitragszuschlägen zu entgehen. Eine entsprechende Kostenverlagerung auf die gesetzliche Krankenversicherung sei möglicherweise von der Beklagten beabsichtigt.
Die Klägerin ist ein Mitgliedsunternehmen der Beklagten. Mit Beitragsbescheid vom 25.04.2002 betreffs des Jahres 2001 erhob die Beklagte bei der Klägerin einen Beitragszuschlag von 30 %. Grund waren 2001 vier "normale Versicherungsfälle" (bei 58 Vollarbeitskräften) mit einer tatsächlichen Entschädigungsleistung für die Beklagte in Höhe von 683,63 Euro. Im Widerspruchsverfahren erfolgte dann eine rückwirkende Veranlassung zu einer niedrigeren Gefahrenklasse, der entsprechend geänderte Beitragsbescheid vom 11.06.2002 warf dann einen Zuschlag in Höhe von 7.417,87 Euro aus. Das Widerspruchsverfahren wurde schließlich mit dem Widerspruchsbescheid vom 05.08.2002 abgeschlossen.
Mit ihrer binnen Monatsfrist dagegen erhobenen Klage bringt die Klägerin vor, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei verletzt. Insbesondere beständen unverhältnismäßige Sprünge zwischen den Schweregraden. Auf die von der Klägerin im einzelnen vorgebrachten Fallbeispiele zur Erläuterung dieses Vorwu...