Entscheidungsstichwort (Thema)

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Autismustherapie in einem Autismustherapiezentrum. Annex-Leistung zu einer geförderten Berufsausbildung. Abgrenzung zu Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. zweitangegangener Träger. Ermessensreduzierung auf Null bei Unzumutbarkeit des Wechsels des Leistungserbringers. Selbstbeschaffung. Erstattungsanspruch. sozialgerichtliches Verfahren. Klageänderung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Stellt ein behinderter Mensch bei zwei Behörden jeweils einen Antrag auf Leistungen im Sinne des § 14 Abs 1 S 1 SGB IX, so ist für das Verfahren nach § 14 SGB IX allein der erste bei einer der beiden Behörden eingegangene Antrag maßgeblich. Es ist nicht entscheidend, welche Behörde den Antrag innerhalb der in § 14 Abs 1 S 1 SGB IX geregelten Frist zuerst weiterleitet.

2. Besteht bei einem behinderten Menschen (hier: Störung aus dem Autismusspektrum, Asperger-Syndrom) über eine geförderte Ausbildung in einem Berufsbildungswerk hinaus ein weitergehender Bedarf, so kann dieser auch von einem Dritten (hier: Autismustherapiezentrum) gedeckt werden. Dies gilt auch dann, wenn das Berufsbildungswerk auf das einschlägige Krankheitsbild spezialisiert ist.

3. Kommen für den Bedarf eines behinderten Menschens mehrere Leistungssysteme in Betracht, so hat die Abgrenzung nach dem Schwerpunkt des Bedarfs und der Maßnahme zu erfolgen (vgl LSG Celle-Bremen vom 19.4.2012 - L 15 AS 1091/09 unter Verweis auf: BSG vom 29.9.2009 - B 8 SO 19/08 R = SozR 4-3500 § 54 Nr 6; anders wohl: LSG Celle-Bremen vom 19.6.2018 - L 7/12 AL 46/16).

4. Eine Selbstverschaffung steht der Leistungspflicht nach dem Rechtsgedanken des § 13 Abs 3 SGB V und des § 15 Abs 1 S 4 SGB IX dann nicht entgegen, wenn der Leistungsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (vgl SG Osnabrück vom 1.12.2009 - S 16 AL 200/07 = RdNr 42). Die Umstellung der Klage von der Übernahme auf die Erstattung der Leistungen stellt keine Klageänderung dar (vgl BSG vom 20.3.2007 - B 2 U 38/05 R = SozR 4-1300 § 48 Nr 10).

 

Orientierungssatz

Kann der behinderter Mensch schwer mit Veränderungen umgehen und ist er bereits bei einem Leistungsanbieter in Behandlung, kann sich aus der Unzumutbarkeit des Wechsels des Leistungsanbieters eine Ermessensreduzierung auf Null ergeben.

 

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 23.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.09.2016 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für die Autismustherapie vom 11.10.2016 bis 09.06.2017 in Höhe von 2.040,00 EUR zu erstatten.

Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt mit dem vorliegenden Verfahren die Übernahme von Kosten für eine Autismustherapie.

Die im Jahr 1995 geborene Klägerin leidet unter einer Störung aus dem Autismusspektrum. Nach einem Arztbrief des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie Dr. med. D. vom 10.08.2014 liegt bei der Klägerin eine tiefgreifende Entwicklungsstörung vor. Es handele sich um ein sogenanntes Asperger-Syndrom. Dem lag das Ergebnis eines Testverfahrens durch den vorgenannten Arzt vom 21.04.2010 zugrunde. Am 20.05.2010 diagnostizierte der vorgenannte Arzt, Dr. D., auf der Grundlage des Testverfahrens, dass die Kriterien für eine Autismusdiagnose bei der Klägerin erfüllt seien. Hauptsächlich scheine diese Problematik den schulischen Bereich negativ zu beeinflussen, sodass eine optimale Entwicklung von schulischen Fertigkeiten nicht gewährleistet sei. Bei der Klägerin ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt. Sie steht unter Betreuung durch ihren Vater, Herrn A. (Amtsgericht B, 16 XVII F 225). Wegen ihrer Erkrankung wurden der Klägerin zunächst Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII durch den Beigeladenen gewährt.

Nach der Schule 2014 absolvierte die Klägerin in der Zeit vom 02.09.2013 bis 31.07.2014 im Berufsbildungswerk E. eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme. Im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB VIII (durch den Beigeladenen) ergab sich aus einer Hilfsplanfortschreibung vom 30.12.2013, dass die Klägerin die Autismustherapie laut Einschätzung des Berufsbildungswerks zur weiteren Stabilisierung benötige, da sie dazu tendiere, Situationen „auszuhalten“, überangepasst zu reagieren und sich selbst zu hohe Anforderungen zu setzen. Nach einem Qualifizierungsplan Förderstufe vom 21.03.2014 ergaben die Ergebnisse des ersten Abschnitts der berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme (Grundstufe vom 02.09.2013 bis 28.02.2014), dass die Klägerin gute Arbeitsergebnisse erzielt habe. Sie sei überaus zuverlässig und könne auch schwierige Aufgaben und Arbeitsabläufe schnell erfassen und komplizierte Zusammenhänge erkennen. Nach einem Bericht des Autismuszentrums vom 24.06.2014 gab dieses in einer Zusammenfassung an, dass die Klägerin während der Ausbildung eine intensive therapeutische Begleitung ben...

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