Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. kein Anspruch einer Krankenkasse gegen Krankenhausträger auf Erstattung vor erstmaliger BSG-Rechtsprechung zum Prüfregime der sachlich-rechnerischen Richtigkeit gezahlter Aufwandspauschale. Rückwirkungsverbot. Treu und Glauben
Leitsatz (amtlich)
1. Es besteht kein Anspruch einer Krankenkasse gegen einen Krankenhausträger auf Erstattung der vor dem Urteil des BSG vom 1.7.2014 - B 1 KR 29/13 R = BSGE 116, 165 = SozR 4-2500 § 301 Nr 4 nach § 275 Abs 1c S 3 SGB 5 gezahlten Aufwandspauschale.
2. Einem solchen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch steht einerseits das Rückwirkungsverbot, andererseits das auf den Grundsatz von Treu und Glauben gestützte Verbot treuwidrigen Verhaltens entgegen.
Orientierungssatz
Zu Leitsatz 1 vgl auch SG Aachen vom 14.3.2017 - S 13 KR 436/16 und vom 18.7.2017 - S 13 KR 159/17.
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand
Vorliegend begehrt die Klägerin vom Beklagten die Erstattung der von ihr in sechs Behandlungsfällen nach § 275 Abs. 1c Satz 3 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) gezahlten Aufwandspauschale in Höhe von insgesamt 1.800,00 €.
Sechs bei der Klägerin krankenversicherte Patientinnen und Patienten wurden beim Beklagten, einer Hochschulklinik in der Rechtsform einer rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts, stationär behandelt. Nach Begleichung der ihr hierfür gestellten Rechnungen veranlasste die Klägerin beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) eine Überprüfung der Krankenhausabrechnungen durch Überprüfung der Kodierung. Die Überprüfung durch den MDK anhand der vom Beklagten vorgelegten Unterlagen ergab, dass die vom Beklagten vorgenommene Kodierung in den hier streitgegenständlichen sechs Behandlungsfällen korrekt war, sodass es zu keiner Minderung der Abrechnungsbeträge kam.
Der Beklagte stellte der Klägerin daraufhin im Jahr 2012 in den streitgegenständlichen sechs Behandlungsfällen jeweils eine Aufwandspauschale i.H.v. 300,00 € in Rechnung, die von der Klägerin auch bezahlt wurde.
Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25.10.2016, wonach bei Kodierungsprüfungen als sachlich-rechnerische Tatbestände keine Aufwandspauschale zu zahlen sei, forderte die Klägerin den Beklagten mit Schreiben vom 30.11.2016 zur Rückzahlung der Aufwandspauschalen in Höhe von insgesamt 1.800,00 € auf.
Da der Beklagte hierauf keine Zahlungen geleistet hat, hat die Klägerin am 27.12.2016 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) mit dem Begehren erhoben, den Beklagten zur Zahlung von 1.800,00 € zu verurteilen. Zur Begründung hat die Klägerin im Wesentlichen ausgeführt, sie habe einen Anspruch auf Rückzahlung der Aufwandspauschalen, da die Zahlung rechtsgrundlos ergangen sei. Der Beklagte habe keinen Anspruch auf Zahlung der Aufwandspauschale durch sie gehabt. Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des BSG in seinen Urteilen vom 25.10.2016. Darin habe das BSG ausdrücklich klargestellt, dass Kodierprüfungen sachlich-rechnerische Tatbestände darstellen würden, bei denen keine Aufwandspauschale zu zahlen sei, auch wenn sich der Rechnungsbetrag nicht mindere. Dabei komme es nicht darauf an, ob die Krankenkasse im Prüfauftrag an den MDK oder der MDK in der Anforderung von Unterlagen beim Krankenhaus Bezug auf § 275 Abs. 1 oder Abs. 1c SGB V genommen habe. Ferner handle es sich bei § 275 Abs. 1c Satz 4 SGB V um eine ab dem 01.01.2016 geltende gesetzliche Neuregelung, die keinerlei Rückwirkung entfalte. Da vorliegend eine sachlich-rechnerische Abrechnungsprüfung erfolgt sei, habe für den Beklagten kein Anspruch auf Erhalt einer Aufwandspauschale bestanden. Ihre Zahlung sei rechtsgrundlos erfolgt und deshalb zurückzuerstatten. Der Rückzahlungsanspruch sei weder verwirkt noch verjährt.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie 1.800,00 € nebst Zinsen hieraus i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 27.12.2016 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe in keinem der eingeklagten Fälle den Prüfauftrag an den MDK als sachlich-rechnerische Überprüfung tituliert. Der MDK habe die Prüfaufträge auch nicht als sachlich-rechnerische Überprüfung angesehen, sondern sich auf § 275 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 1c SGB V berufen. Auch die Klägerin selbst sei davon ausgegangen, dass es sich um Überprüfungen gemäß § 275 Abs. 1c SGB V handle. Bei den Überprüfungen habe es sich aus der maßgeblichen Sicht eines objektiven Empfängers um Auffälligkeitsprüfungen nach dem übereinstimmenden Willen aller Verfahrensbeteiligten gehandelt. Der Anwendung der Rechtsprechung des BSG auf Fälle vor dem 01.07.2014 stehe das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot entgegen. Der 1. Senat des BSG habe das neue Prüfinstitut der sogenannten sachlich-rechnerischen Überprüfung erstmals in seiner Entscheidung vom 01.07.2014 propag...