Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 2106 und gem BKV Anl 1 Nr 2113. Druckschädigung der Nerven. Carpaltunnel-Syndrom. repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Handgelenke. haftungsbegründende Kausalität. Latenzzeit. Auftreten der Erkrankungen nach langjähriger. auch jahrzehntelanger. beruflicher Tätigkeit. Maurer
Leitsatz (amtlich)
Die Berufskrankheiten 2106 und 2113 setzen nicht voraus, dass die maßgeblichen Erkrankungen innerhalb einer kurzen Latenzzeit von 12 Monaten nach Aufnahme der gefährdenden Tätigkeit auftraten. Vielmehr kommt die Anerkennung dieser Berufskrankheiten auch dann in Betracht, wenn die Erkrankungen erst nach langjähriger - auch jahrzehntelanger - beruflicher Tätigkeit in Erscheinung treten.
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 23.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.03.2018 verurteilt, beim Kläger die Berufskrankheiten 2106 und 2113 anzuerkennen.
Die außergerichtlichen Kosten des Klägers sind von der Beklagten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung der Berufskrankheiten (BKen) nach Nr. 2106 und Nr. 2113 der Anl. 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV; nachfolgend: BK 2106 bzw. BK 2113: Druckschädigung der Nerven bzw. Druckschädigung des Nervus medianus im Carpaltunnel - Carpaltunnel-Syndrom - durch repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Handgelenke, durch erhöhten Kraftaufwand der Hände oder durch Hand-Arm-Schwingungen).
Der im Jahr 1973 geborene Kläger war von August 1990 bis zum Eintritt dauerhafter Arbeitsunfähigkeit im März 2016 bei verschiedenen Unternehmen als Maurer tätig.
Der Kläger leidet jeweils beidseitig an einem Sulcus-Ulnaris-Syndrom bzw. Kubitaltunnelsyndrom und einem Carpaltunnelsyndrom. Seit Juli 2015 erfolgten wegen der damit einhergehenden Beschwerden an Händen, Ellbogen und Handgelenken ärztliche Behandlungen und operative Eingriffe. Zum Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens der Beschwerden teilte der Kläger im Juli 2015 mit, diese hätten „seit Jahren“ zugenommen (Bl. 47 VA). Später gab er einen Beschwerdebeginn ca. im Jahr 2014 an (Bl. 13, 123 VA).
Die beruflichen Tätigkeiten waren sowohl im Hinblick auf das Sulcus-Ulnaris-Syndrom bzw. Kubitaltunnelsyndrom als auch auf das Carpaltaltunnelsyndrom mit gefährdenden Einwirkungen verbunden (Stellungnahme des Präventionsdienstes der Beklagten vom November 2016 Bl. 86 VA).
Der leitende Oberarzt der Orthopädie in den Fachkliniken Dr. C ging in seinem Gutachten vom März 2017 (Bl. 123 VA) davon aus, dass die Erkrankungen des Klägers mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beruflich verursacht seien. Dem widersprach der beratende Arzt der Beklagten Dr. D (Bl. 155 VA), der zwar das Vorliegen von Krankheitsbildern im Sinne der beiden streitgegenständlichen BKen bestätigte, den aus seiner Sicht erforderlichen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Beginn der beruflichen Belastung und dem Auftreten der Erkrankungen indes verneinte. Hierzu verwies er auf das Merkblatt zur BK 2106 (Bek. des BMA vom 01.10.2002, BArbBl. 11/2002, S. 62) und auf die wissenschaftliche Begründung zur BK 2113 (auszugweise Zitate hieraus in der Handlungsanleitung „Carpaltunnel-Syndrom“ der DGUV vom Juni 2016) und ging davon aus, dass darin ein Auftreten beider Erkrankungen in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der gefährdenden Tätigkeit gefordert werde. Dieser enge zeitliche Zusammenhang sei angesichts der im Jahr 1990 aufgenommenen Maurertätigkeit und der erst ab dem Jahr 2015 dokumentierten Erkrankungen nicht gegeben.
Gestützt auf die Auffassung von Dr. D lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23.05.2017 die Anerkennung der BKen 2106 und 2113 ab. Im Widerspruchsverfahren trug der behandelnde Orthopäde des Klägers Dr. E vor, das Fehlen kurzer Expositionszeiten sei kein Ausschlusskriterium. Auch wenn Beschwerden später auftreten, könne ein Kausalzusammenhang bestehen (Bl. 169 VA). Die Beklagte folgte dieser Begründung nicht und wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.03.2018 zurück.
Deswegen hat der Kläger am 23.03.2018 beim Sozialgericht Reutlingen Klage erhoben und vorgetragen, jahrzehntelang mit Stampfern, Hiltis und Presslufthämmern gearbeitet zu haben, was zu seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen geführt habe. Die ab Mai 2011 ausgeübte Tätigkeit sei in besonderem Umfang mit gefährdenden Einwirkungen verbunden gewesen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 23.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.03.2018 zu verurteilen, beim Kläger die BKen 2106 und 2113 anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält an der getroffenen Entscheidung fest und verweist auf die ergänzende Stellungnahme ihres Präventionsdienstes (Bl. 22 Gerichtsakte), wonach die die seit Mai 2011 vom Kläger verrichtete Tätigkeit gegenüber den früheren Tätigkeiten nur mit einer 5%-igen Erhöhung von Pflasterarbei...