Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht bzw bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Europarechtskonformität. Verfassungsmäßigkeit. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 S 1 SGB 12. Überbrückungsleistungen und Rückreisekosten. Vorlagepflicht zum BVerfG. vorläufige Entscheidung nach § 41a Abs 7 S 1 Nr 1 SGB 2. Ermessensreduzierung auf Null
Leitsatz (amtlich)
1. Die Ausschlusstatbestände des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II verstoßen gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs 1 GG (Anschluss an SG Mainz vom 18.4.2016 - S 3 AS 149/16).
2. Der von den Ausschlusstatbeständen des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II betroffene Personenkreis hat keinen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII. Die eingefügten Sonder- und Härtefallregelungen des § 23 Abs 3 SGB XII und § 23 Abs 3a SGB XII in der ab dem 29.12.2016 geltenden Fassung können den Verfassungsverstoß nicht kompensieren, da sie dem verfassungsrechtlichen Gebot, die für die Verwirklichung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wesentlichen Regelungen hinreichend bestimmt selbst zu treffen (vgl SG Mainz vom 12.12.2014 - S 3 AS 130/14 = juris RdNr 252ff) nicht genügen.
3. An der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sind Fachgerichte für den Fall, dass sie die angegriffene Regelung für verfassungswidrig erachten, nicht dadurch gehindert, dass sie über die Frage der Verfassungswidrigkeit nicht selbst entscheiden könnten, sondern insoweit die Entscheidung des BVerfG nach Art 100 Abs 1 GG einholen müssten (vgl BVerfG vom 24.6.1992 - 1 BvR 1028/91 = BVerfGE 86, 382 = juris RdNr 29).
4. Die Voraussetzungen für eine vorläufige Entscheidung nach § 41a Abs 7 S 1 Nr 1 SGB II sind erfüllt, wenn die für die Leistungsbewilligung entscheidungserhebliche Vorschrift insofern einen Gegenstand eines Verfahrens vor dem BVerfG bildet, dass sie im Falle der Nichtigkeitserklärung der im engeren Sinne verfahrensgegenständlichen Vorschrift mit hoher Wahrscheinlichkeit nach § 78 S 2 BVerfGG gleichfalls für nichtig erklärt wird. Der unter dem Aktenzeichen 1 BvL 4/16 anhängige Vorlagebeschlusses des SG Mainz vom 18.4.2016 - S 3 AS 149/16 ermöglicht die vorläufige Entscheidung nach § 41a Abs 7 S 1 Nr 1 SGB II deshalb auch in Fällen des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II in der seit dem 29.12.2016 geltenden Fassung.
5. Das dem Leistungsträger grundsätzlich eingeräumte Ermessen, ob nach § 41a Abs 7 S 1 Nr 1 SGB II vorläufig Leistungen zu erbringen sind, ist im Fall einer drohenden Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch den Ausschluss von unterhaltssichernden Leistungen auf Null reduziert (entgegen LSG Celle-Bremen vom 19.5.2017 - L 11 AS 247/17 B ER = juris RdNr 24).
6. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II verstößt auch gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 VO (EG) 883/2004 (juris: EGV 883/2004). Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten gerechtfertigt werden, den Zugang zu nationalen Systemen der Sozialhilfe für Unionsbürger zu beschränken (vgl Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG - juris: EGRL 38/2004) (Anschluss an SG Mainz vom 12.11.2015 - S 12 AS 946/15 ER = juris RdNr 41 ff und vom 18.4.2016 - S 3 AS 149/16 = juris RdNr 381ff; entgegen EuGH vom 15.9.2015 - C-67/14 = SozR 4-4200 § 7 Nr 49, = juris RdNr 63).
7. Die Ausschlussregelungen des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst a und b SGB II sind nicht bereits deshalb als mit Art 4 VO (EG) 883/2004 vereinbar anzusehen, weil der EuGH dies im Urteil vom 15.9.2015 - C-67/14 aaO ausgesprochen hat.
Tenor
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von 119 Euro monatlich für den Zeitraum vom 01.07.2017 bis zum 31.10.2017 und in Höhe von 132,87 Euro für den Zeitraum vom 01.11.2017 bis zum 30.11.2017 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.
Der 1999 geborene Antragsteller ist spanischer Staatsangehöriger. Er lebt mit seiner 1964 geborenen Mutter in einer Mietwohnung in L…. Mieter der Wohnung ist laut Mietvertrag vom 21.12.2013 allein der Ehemann der Mutter des Antragstellers und Vater des Antragstellers. Die Familie lebte bereits von Juli 2012 bis April 2013 in M…. Nach zwischenzeitlichem Aufenthalt in S… wohnen sie seit Dezember 2013 (Meldung des Einzugs am 23.12.2013) wieder in D….
Der Ehemann der Antragstellerin zu 1 und Vater des Antragstellers zu 2 ist algerischer ...