Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Regelungsanordnung. Anordnungsanspruch. Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Begrenzung der Leistungen durch den unbestimmten Rechtsbegriff der Angemessenheit. Bestimmtheitsgebot. Verfassungswidrigkeit des § 22 Abs 1 S 1 SGB 2. Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Mehrpersonenhaushalt. Zuordnung der Unterkunftskosten. keine Anwendung des Kopfteilprinzips mangels Rechtsgrundlage. Vertretungsvermutung des § 38 Abs 1 SGB 2. keine Anwendung bei der Bekanntgabe von Verwaltungsakten

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 22 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB II ist verfassungswidrig. Die Regelung verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG (Schutz der Menschenwürde) in Verbindung mit Art 20 Abs 1 GG (Sozialstaatsprinzip). Mit der Begrenzung der bei der Bedarfsberechnung zu berücksichtigenden Unterkunftskosten auf die "angemessenen" Aufwendungen in § 22 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB II verstößt der Gesetzgeber gegen das verfassungsrechtliche Gebot, die für die Verwirklichung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wesentlichen Regelungen hinreichend bestimmt selbst zu treffen (Anschluss an SG Mainz vom 12.12.2014 - S 3 AS 130/14 und vom 12.12.2014 - S 3 AS 370/14).

2. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat über die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 22 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB II noch nicht entschieden. Mit Beschluss vom 6.10.2017 (BVerfG vom 6.10.2017 - 1 BvL 2/15 ua) wurden die Vorlagebeschlüsse des SG Mainz vom 12.12.2014 (SG Mainz vom 12.12.2014 - S 3 AS 130/14 und vom 12.12.2014 - S 3 AS 370/14) lediglich als unzulässig verworfen, da sie nach Auffassung des BVerfG nicht in jeder Hinsicht den Darlegungsanforderungen des § 80 Abs 2 S 1 BVerfGG genügten (vgl BVerfG vom 6.10.2017 - 1 BvL 2/15 ua = juris RdNr 13). Mit dem Beschluss vom 10.10.2017 (BVerfG vom 10.10.2017 - 1 BvR 617/14 = NJW 2017, 3770) wurde die dem Verfahren zu Grunde liegende Verfassungsbeschwerde durch die 2. Kammer des 1. Senats des BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen. Soweit sich die Kammer in diesem Beschluss gleichwohl dahingehend äußert, dass sie die Regelung für verfassungsgemäß hält, vermag deren Argumentation nicht zu überzeugen.

3. An der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sind Fachgerichte für den Fall, dass sie die angegriffene Regelung für verfassungswidrig erachten, nicht dadurch gehindert, dass sie über die Frage der Verfassungswidrigkeit nicht selbst entscheiden könnten, sondern insoweit die Entscheidung des BVerfG nach Art 100 Abs 1 GG einholen müssten (vgl BVerfG vom 24.6.1992 - 1 BvR 1028/91 = BVerfGE 86, 382 = juris RdNr 29; SG Speyer vom 17.8.2017 - S 16 AS 908/17 ER = juris RdNr 75).

4. Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sind bei Mehrpersonenhaushalten den Personen als Bedarf zuzuordnen, die die Aufwendungen tatsächlich haben, dh die tatsächlich einer entsprechenden Forderung ausgesetzt sind. Für eine Aufteilung nach Kopfteilen besteht hingegen keine Rechtsgrundlage (Anschluss an SG Mainz vom 12.12.2014 - S 3 AS 130/14 = juris RdNr 289ff und SG Speyer vom 17.8.2017 - S 16 AS 908/17 ER = juris RdNr 31ff; entgegen BSG vom 23.11.2006 - B 11b AS 1/06 R = BSGE 97, 265 = SozR 4-4200 § 20 Nr 3, RdNr 28f und vom 31.10.2007 - B 14/11b AS 7/07 R = FamRZ 2008, 688 = juris RdNr 19).

5. Die Vertretungsvermutung des § 38 Abs 1 SGB II gilt nicht für den Fall der Bekanntgabe von Verwaltungsakten gegenüber dem Antragsteller (Fortführung von SG Speyer vom 8.9.2017 - S 16 AS 729/16 = juris RdNr 46ff).

 

Tenor

1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin zu 1 vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von weiteren 520,55 Euro für den Zeitraum vom 01.11.2017 bis zum 30.11.2017, in Höhe von weiteren 968,38 Euro für den Zeitraum vom 01.12.2017 bis zum 31.12.2017 und in Höhe von weiteren 297,77 Euro für den Zeitraum vom 01.01.2018 bis zum 31.01.2018 zu zahlen.

2. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller zu 4 Arbeitslosengeld II in Höhe von 116,10 Euro für den Zeitraum vom 01.11.2017 bis zum 30.11.2017 zu zahlen.

3. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

4. Der Antragsgegner hat den Antragstellern deren notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerinnen zu 1 und 2 und die Antragsteller zu 3 und 4 begehren die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von (höheren) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

1. Die 1970 geborene Antragstellerin zu 1 ist alleinerziehende Mutter der 2000 geborenen Antragstellerin zu 2, des 2000 geborenen Antragstellers zu 3 und des 1998 geborenen Antragstellers zu 4. Seit März 2010 wohnen die Antragsteller in der Wohnung P...-R...-Straße in F.... Die Antragstellerin ist laut Mietvertrag vom 18.02.2010 alleinige Mieterin der Wohnung.

Für di...

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