Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Überschreitung der Angemessenheitsgrenze. Kostensenkungsobliegenheit nur bei Kenntnis einer konkreten, bedarfsgerechten und angemessenen Unterkunftsalternative. verfassungskonforme Auslegung. keine Aufteilung der Unterkunftskosten nach Kopfteilprinzip

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Senkung von Unterkunftskosten durch Auszug ist Leistungsberechtigten objektiv immer möglich (§ 22 Abs 1 S 3 SGB II), wenn und soweit sie sich von vertraglichen Verpflichtungen zur Leistung von Aufwendungen wirksam lösen können.

2. Zumutbar (§ 22 Abs 1 S 3 SGB II) kann eine Kostensenkung durch Umzug allenfalls dann sein, wenn an Stelle der bisher bewohnten Unterkunft eine andere, sowohl bedarfsgerechte als auch iS des § 22 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB II angemessene Unterkunft bezogen werden kann (vgl BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 18/06 R = BSGE 97, 254 = SozR 4-4200 § 22 Nr 3, Rn 22; BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R = BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, Rn 25; BSG vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 70/06 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 8, Rn 17; BSG vom 19.3.2008 - B 11b AS 43/06 R, Rn 20; BSG vom 18.6.2008 - B 14/7b AS 44/06 R = FEVS 60, 145, Rn 19). Denn unabhängig davon, wie der unbestimmte Rechtsbegriff der "Zumutbarkeit" im Kontext des § 22 Abs 1 S 3 SGB II im Übrigen zu konkretisieren ist, folgt aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Mindestvoraussetzung für die Zumutbarkeit der Kostensenkung, dass diese nicht zur Obdachlosigkeit führen darf.

3. Dies setzt nicht nur voraus, dass auf dem (im Wege der Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs des § 22 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB II näher zu bestimmenden) in Betracht zu ziehenden regionalen Wohnungsmarkt im streitgegenständlichen Zeitraum "angemessener", leerstehender Wohnraum vorhanden, sondern auch, dass dem Leistungsberechtigten im streitgegenständlichen Zeitraum mindestens eine konkrete Unterkunftsalternative bekannt gewesen sein muss (Anschluss an SG Speyer vom 9.5.2018 - S 16 AS 1339/16, Rn 44).

4. Eine Kostensenkungsobliegenheit des Leistungsberechtigten besteht nur dann, wenn eine konkrete, zumutbare und angemessene Unterkunftsalternative zur Verfügung steht und dem Leistungsberechtigten bekannt ist. Eine Obliegenheit zur Wohnungssuche besteht hingegen nicht, da das Gesetz an das bloße Unterlassen einer Wohnungssuche keine negativen leistungsrechtlichen Konsequenzen knüpft (Anschluss an SG Speyer vom 9.5.2018 - S 16 AS 1339/16, Rn 49).

5. Die Frage, ob die Regelung des § 22 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB II auf Grund ihrer Unbestimmtheit verfassungswidrig ist, über die das Bundesverfassungsgericht mit seinen Beschlüssen vom 6.10.2017 (1 BvL 2/15 und 1 BvL 5/15 = NDV-RD 2018, 29) und vom 10.10.2017 (1 BvR 617/14 = NJW 2017, 3770 und 1 BvR 944/14) noch nicht entschieden hat (vgl SG Speyer vom 29.12.2017 - S 16 AS 1466/17 ER = info also 2018, 172, Rn 63f), ist im vorliegenden Verfahren nicht entscheidungserheblich.

6. Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sind bei Mehrpersonenhaushalten den Personen als Bedarf zuzuordnen, die die Aufwendungen tatsächlich haben, dh die tatsächlich einer entsprechenden Forderung ausgesetzt sind. Für eine Aufteilung nach Kopfteilen besteht hingegen keine Rechtsgrundlage (Anschluss an SG Mainz vom 12.12.2014 - S 3 AS 130/14, Rn 289ff, SG Speyer vom 17.8.2017 - S 16 AS 908/17 ER, Rn 31ff und SG Speyer vom 29.12.2017 - S 16 AS 1466/17 ER aaO, Rn 36; entgegen BSG vom 23.11.2006 - B 11b AS 1/06 R = BSGE 97, 265 = SozR 4-4200 § 20 Nr 3, Rn 28; vom 31.10.2007 - B 14/11b AS 7/07 R = FamRZ 2008, 688, Rn 19).

 

Tenor

1. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 20.12.2018 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 21.01.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2019 verurteilt, der Klägerin weiteres Arbeitslosengeld II in Höhe von 139,20 Euro monatlich für den Zeitraum vom 01.02.2019 bis zum 31.12.2019 zu zahlen.

2. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung höherer Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 01.02.2019 bis zum 31.12.2019.

Die 1994 geborene Klägerin lebt alleinerziehend mit ihrem 2015 geborenen Sohn und ihrer 2016 geborenen Tochter in einer Mietwohnung in L.. Die Bruttokaltmiete betrug im streitgegenständlichen Zeitraum monatlich 601,60 Euro. Daneben hatte die Klägerin eine Heizkostenvorauszahlung in Höhe von 135 Euro monatlich zu leisten. Für den Sohn der Klägerin wurde ein Unterhaltsvorschuss in Höhe von 160 Euro monatlich und Kindergeld in Höhe von 194 Euro monatlich gezahlt, für die Tochter ein Unterhaltsvorschuss in Höhe von 160 Euro und Kindergeld in Höhe von 200 Euro. Sonstige Einnahmen erzielte die Klägerin nicht.

Der Beklagte hatte der Klägerin und ihren Kindern zunächst bis zum 31.12.2018 Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld unter Berücksichtigung der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunf...

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