Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Bekanntgabe eines Bewilligungsbescheides. keine Vertretungsvermutung für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten entsprechend § 38 Abs 1 SGB 2
Leitsatz (amtlich)
1. Die Vertretungsvermutung des § 38 Abs 1 SGB II kann nicht "über den Wortlaut der Norm hinaus" auf alle Verfahrenshandlungen, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Antrags dienen, erweitert werden (entgegen BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R = BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1 = juris RdNr 28; BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 2/13 R = SozR 4-4200 § 38 Nr 3 = juris RdNr 25; BSG vom 27.9.2011 - B 4 AS 155/10 R = SozR 4-1935 § 7 Nr 1 = juris RdNr 22).
2. Insbesondere gilt die Vertretungsvermutung des § 38 Abs 1 SGB II nicht für den Fall der Bekanntgabe von Verwaltungsakten gegenüber dem Antragsteller.
3. Eine analoge Anwendung von Rechtsnormen auf nach dem Wortlaut nicht erfasste Sachverhalte ist allenfalls dann zulässig, wenn eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke besteht. In Folge des verfassungsrechtlichen Gesetzesbindungsgebots darf von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht methodisch korrekt zu lösen wäre (Anschluss an SG Mainz vom 21.9.2015 - S 3 KR 558/14 = juris RdNr 29ff; SG Mainz vom 18.4.2016 - S 3 AS 149/16 = juris RdNr 374ff).
Tenor
1. Der Bescheid vom 09.04.2015 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.04.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2016 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
3. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid.
Der 1975 geborene Kläger war mit der Zeugin Frau S… M… L… seit dem 15.09.2011 verheiratet. Seit dem 13.01.2015 sind der Kläger und Frau L… rechtskräftig geschieden.
Ab dem 17.01.2012 war der Kläger in S… in der Wohnung der Frau L… gemeldet. Er war zunächst weiter in K… bei der Fa. H… beschäftigt. Zwei minderjährige Kinder der Frau L… lebten ebenfalls in der Wohnung. Frau L… bezog bereits vor Einzug des Klägers Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), war aber zugleich erwerbstätig.
Frau L…i hatte dem Beklagten im Oktober 2011 mitgeteilt, dass der Kläger in ihre Wohnung einziehen würde. Nach dem Einzug des Klägers legte Frau L… dem Beklagten anlässlich eines Weiterbewilligungsantrags für die Zeit ab dem 01.01.2012 zahlreiche Unterlagen betreffend den Kläger vor, darunter diverse Anlagen zu Antragsformularen. Diese waren sämtlich von Frau L… und nicht vom Kläger selbst unterzeichnet. U.a. wurde eine Anmeldebestätigung vorgelegt, ebenso Einkommensnachweise für die Zeit vom September 2011 bis Januar 2012 sowie Kopien des Personalausweises, der Krankenversichertenkarte und des Sozialversicherungsausweises. Die zum Weiterbewilligungsantrag vorgelegten Anlagen WEP, SV, EK und VM waren von Frau L… unterzeichnet.
Mit Bescheid vom 08.02.2012 bewilligte der Beklagte der Frau L… Leistungen nach dem SGB II (“für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen„) für den Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 30.06.2012, für den Kläger selbst ab dem 17.01.2012. Der Beklagte ging bei der Bescheiderteilung von einem monatlichen Bruttoeinkommen des Klägers von 1.700 Euro und der Frau L… von 450 Euro aus. Die Zahlungen auf Grund des Bescheides erfolgten immer auf ein Konto der Frau L…
Mit einem dem Bewilligungsbescheid vom 08.02.2012 entsprechend adressierten Änderungsbescheid vom 27.02.2012 erfolgte eine Erhöhung der Leistungen für den gesamten Zeitraum vom 01.01.2012 bis zum 30.06.2012. Hintergrund war die Berücksichtigung von Unterhaltszahlungen in Höhe von zusammen 178 Euro monatlich, die der Kläger für zwei Kinder leistete. Nachweise hierfür hatte Frau L… vorgelegt, nachdem sie hierzu vom Beklagten mit Schreiben vom 08.02.2012 aufgefordert worden war. In dem Schreiben wurde mitgeteilt, dass der Kläger angegeben hätte, dass er Unterhaltsleistungen zahlen müsse. Den Verwaltungsvorgängen lässt sich jedoch nur die Nennung von Unterhaltsleistungen des Klägers in der allein von Frau L… am 02.02.2012 unterzeichneten Anlage EK entnehmen.
Im Juni 2012 stellte Frau L… einen Weiterbewilligungsantrag. Auch auf den hierzu vorgelegten Antragsformularen wurden Unterschriften ausschließlich durch Frau L… geleistet.
Laut Aktenvermerk vom 21.06.2016 teilte Frau L… dem Beklagten an diesem Tag mit, dass der Kläger am 16.06.2012 im Streit gegangen und bisher nicht zurückgekehrt sei. Anlässlich einer telefonischen Rücksprache am 25.06.2012 mit Frau L… teilte diese mit, dass ihr Ehemann (der Kläger) weiter im Haushalt lebe.
Mit Bescheid vom 26.06.2012 bewilligte der Beklagte der Frau L… vorläufig Leistungen nach dem SGB II (“für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen„) für den Zeitraum vom 01.07.2012 bis zum 31.12.2012.
Ein Anhörung...