Rz. 56
Der Anspruch setzt zunächst voraus, dass für eine Versicherte/einen Versicherten mit einer schwerwiegenden Erkrankung eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann. Das Tatbestandsmerkmal der schwerwiegenden Erkrankung ist dann in Anknüpfung der Rechtsprechung zum Off-Label-Use eines Arzneimittels erfüllt, wenn eine lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung besteht (vgl. etwa BSG, Urteil v. 19.3.2002, B 1 KR 37/00 R Rz. 26).
Rz. 57
Mit der weiteren Voraussetzung, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht (Abs. 6 Satz 1 Nr. 1a), knüpft das Gesetz an § 2 Abs. 1a Satz 1 an. Davon ist zum einen auszugehen, wenn es für die Behandlung der Erkrankung grundsätzlich keine entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten gibt bzw. die dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen versagt haben. Eine Leistung steht aber zum anderen auch dann nicht zur Verfügung, wenn es eine solche Behandlungsmethode zwar gibt, sie aber im konkreten Fall nicht angewandt werden kann, wie z. B. dann, wenn der Patient weder in eine klinische Prüfung noch in ein Härtefallprogramm zu diesem Arzneimittel eingeschlossen werden kann (Peters, in: KassKomm. SGB V, § 2 Rz. 7 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien zu § 2 Abs. 1a in BT-Drs. 17/6906 S. 13, 52, 53 und BT-Drs. 17/8005 S. 13, 103). Den betroffenen Versicherten will der Gesetzgeber im Rahmen der ärztlichen Behandlung hiermit eine Möglichkeit eröffnen, nach Versagen empfohlener Therapieverfahren einen individuellen Therapieversuch zu unternehmen. Dieses Merkmal setzt nicht voraus, dass den Versicherten langjährig schwerwiegende Nebenwirkungen zugemutet werden, bevor die Therapiealternative eines Cannabisarzneimittels genehmigt werden kann. Vielmehr soll die Therapiealternative auch dann gemäß der alternativen Voraussetzung in Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b angewendet werden können, wenn im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten die allgemein anerkannte Leistung nicht zur Anwendung kommen kann. Das wiederum ist der Fall, wenn die durch Studien belegten schulmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten auch unter Berücksichtigung von Nebenwirkungen im Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Krankheit, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eintreten werden, ausgeschöpft sind. Die Nebenwirkungen von Cannabisarzneimitteln sind allerdings im Abwägungsvorgang zu berücksichtigen (BR-Drs. 233/16 S. 17, BT-Drs. 18/10902 S. 19).
Rz. 58
Letztlich eröffnet sich der Anspruch auch dann, wenn durch die Behandlung mit Cannabis eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (Abs. 6 Satz 1 Nr. 2). Damit sollen auch die Fälle erfasst werden, in denen mit dem cannabishaltigen Arzneimittel nicht die Grunderkrankung behandelt wird. Vielmehr hat der Gesetzgeber an Fälle gedacht, in denen eine Versicherte oder ein Versicherter im Rahmen einer onkologischen Erkrankung mit Chemotherapie an Appetitlosigkeit und Übelkeit leidet und dabei eine besondere Schwere der Symptome vorliegt.
Die noch im Entwurf des Gesetzes in einem Satz 1 Nr. 3 enthaltene weitere Voraussetzung, die Leistungsgewährung von einer Verpflichtung der bzw. des Versicherten, innerhalb einer bestimmten Frist an einer laufenden nichtinterventionellen Begleiterhebung zum Einsatz dieser Arzneimittel teilzunehmen, ist durch den Ausschuss für Gesundheit im Gesetzgebungsverfahren entfallen.