Kommentar
Bei dem Verfahren ging es um die Frage, ob der Empfänger von Dienstleistungen, der nach Artikel 21 Nr. 1 der 6. EG-Richtlinie (in der Fassung vor der Änderung durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17.10.2000) Steuerschuldner und als solcher in Anspruch genommen worden ist, eine nach Artikel 18 Abs. 1 Buchst. a bzw. Artikel 22 Abs. 3 der 6. EG-Richtlinie ausgestellte Rechnung besitzen muss, um den Vorsteuerabzug ausüben zu können.
Der EuGH hat die Frage verneint. Von daher musste er nicht mehr auf die weiteren Vorlagefragen des BFH eingehen, welche Folgerungen sich für den Fall ergeben, dass die Rechnung zweifelhafte Angaben enthält.
Nach der Entscheidung geht für die Frage des Vorsteuerabzugs in den Fällen der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft Artikel 18 Abs. 1 Buchst. d der 6. EG-Richtlinie als Spezialvorschrift der Regelung in Artikel 18 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vor. Nach Artikel 18 Abs. 1 Buchst. d muss der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer nur die Förmlichkeiten erfüllen, die der Mitgliedstaat in Wahrnehmung der ihm nach Artikel 18 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie eröffneten Möglichkeiten vorgeschrieben hat. Artikel 18 Abs. 1 Buchst. a, der den Besitz einer Rechnung als Voraussetzung des Vorsteuerabzugs regelt, ist in den Fällen der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft nicht einschlägig. Der EuGH begründet dies mehr mit dem Wortlaut von Artikel 18 Abs. 1 Buchst. d und Artikel 21 Nr. 1 als der Funktion einer Rechnung. Nach Auffassung des EuGH regelt der in Artikel 18 Abs. 1 Buchst. d angeführte Artikel 21 Nr. 1 Buchst. a Unterabs. 3 der 6. EG-Richtlinie (in der Fassung vor der Änderung durch die Richtlinie 2000/65/EG) zwar, dass die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft voraussetzt, dass der Unternehmer eine nach Artikel 22 Abs. 3 der EG-Richtlinie ausgestellte Rechnung besitzt. Dies ist - so der EuGH - aber lediglich ein Kriterium der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft und nicht eine Voraussetzung für den Vorsteuerabzug.
In den weiteren Urteilsgründen erkennt der EuGH zwar an, dass nach Artikel 18 Abs. 1 Buchst. d der EG-Richtlinie die Mitgliedstaaten Förmlichkeiten für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts bei einer Steuerschuldnerschaftsverlagerung vorschreiben können. Dazu gehört jedoch nicht, dass der betreffende Mitgliedstaat verlangen kann, dass der die Steuer schuldende Unternehmer für Zwecke des Vorsteuerabzugs eine entsprechende Rechnung besitzt. Dies begründet der EuGH - allerdings ohne nähere Erläuterungen - damit, dass er annimmt, die Finanzverwaltung besitze in den Fällen der Steuerschuldverlagerung von vornherein überprüfbare Angaben darüber, dass der die Leistung empfangene Unternehmer Steuerschuldner ist. In diesem Fall dürfe der Mitgliedstaat eben keine zusätzlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Vorsteuerabzugs festlegen. Welche überprüfbaren Angaben die Finanzbehörden in den Fällen der Verlagerung der Steuerschuld haben sollen, erklärt der EuGH nicht weiter. Diese Angaben kommen in der Praxis aber gerade aus den ausgestellten Rechnungen.
Im Ergebnis bedeutet die EuGH-Entscheidung, dass in den Fällen der Steuerschuldverlagerung an das Recht des Vorsteuerabzugs geringere Anforderungen gestellt werden, als in den Fällen der Besteuerung des Umsatzes durch den leistenden Unternehmer. Offensichtlich ist der EuGH nicht der Auffassung, dass Erleichterungen in Bezug auf die Notwendigkeit, für Zwecke des Vorsteuerabzugs eine Rechnung zu besitzen, nur allgemein gelten können (z.B. bei Kleinbetragsrechnungen). Zudem ist der EuGH nicht darauf eingegangen, dass auf den Nachweis der Identität des leistenden Unternehmers und des Rechnungsausstellers bzw. die zutreffenden Angaben in der Rechnung, die die Art der Leistung umschreiben, als eine der Voraussetzungen der Vorsteuerabzugsberechtigung wegen der besonderen Bedeutung der Rechnung für den Vorsteuerabzug grundsätzlich nicht verzichtet werden kann. Von daher ist überraschend, dass dies in den Fällen der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft nicht erforderlich sein soll.
Fazit des EuGH-Urteils ist, dass die Verwaltungskontrollen des Vorsteuerabzugs in den Fällen der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft erschwert werden, weil auf die Rechnung als Kontrollinstrument nicht mehr zurückgegriffen werden kann. Dies wirkt sich insbesondere in den Fällen aus, in denen der Leistungsempfänger als Steuerschuldner nicht in vollem Umfang zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. Wenn der Unternehmer eine Rechnung nicht besitzen muss, kann dies für Prüfungsfälle nur bedeuten, dass er sie auch im Falle des Besitzes nicht präsentieren muss. Dessen ungeachtet besteht aber die Möglichkeit, die Prüfung mittels anderer Instrumente vorzunehmen.
Kläger: Gerhard Bockemühlr
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 01.04.2004, C-90/02