4.1 Strukturierungen nach dem Brexit
4.1.1 Keine Anwendung der Niederlassungsfreiheit mehr
Wie unter Abschnitt 1.3 gezeigt, ist davon auszugehen, dass die Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften im Verhältnis zum VK seit dem 01.01.2021 keine Anwendung mehr findet.
4.1.2 Anwendung des sekundären Gemeinschaftsrechts
Seit diesem Zeitpunkt findet auch das sekundäre Gemeinschaftsrecht keine Anwendung mehr. Dies betrifft v. a. die verschiedenen Richtlinien und Verordnungen, die zu gesellschaftsrechtlichen Themen auf EU-Ebene erlassen wurden. Dazu gehören u. a. die bereits zitierte SE-VO, die erst Ende 2019 um die grenzüberschreitende Umwandlung und Spaltung ergänzte Gesellschaftsrichtlinie (RL (EU) 2017/1132) sowie die Aktionärsrichtlinie (RL 2007/36/EG).
Verordnungen zeichnen sich nach Art. 288 Abs. 2 AEUV dadurch aus, dass sie unmittelbar gültig und in allen EU-Mitgliedstaaten rechtlich verbindlich sind, ohne dass es einer Umsetzung in nationales Recht bedarf, während Richtlinien die Mitgliedstaaten nach Art. 288 Abs. 3 AEUV nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels binden, ihnen aber bei der Umsetzung in nationales Recht die Wahl der Mittel selbst überlassen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass das britische Parlament im Juni 2018 mit dem "European Union (Withdrawal) Act 2018", angepasst durch den "European Union (Withdrawal) Act 2020", u. a. das Unionsrecht, das am Tag des Ablaufs des Übergangszeitraums gilt bzw. galt, als nationales Recht in das eigene Rechtssystem überführt hat (Art. 2). Dies gilt ausdrücklich auch für Entscheidungen des EuGH, die bis zum Ablauf des Übergangszeitraums ergangen sind (Art. 3 Abs. 2.a i. V. m. Art. 6 Abs. 1.a). Allerdings erhielt die britische Regierung auf Basis des Gesetzes weitreichende Befugnisse, das eingeführte Unionsrecht ohne zwingende weitere Befassung des Parlaments zu ändern (Art. 8).
Dieses Gesetz darf deshalb nicht missverstanden werden in der Weise, dass das sekundäre Gemeinschaftsrecht nach dem Ablauf des Übergangszeitraums auch im Verhältnis zum VK weiter Gültigkeit hat. Zumindest bindet das EU-Recht das VK seit dem Ablauf des Übergangszeitraums nicht mehr. Die Überführung des Gemeinschaftsrechts in nationales Recht dürfte eher den Hintergrund gehabt haben, mögliche eigene Gesetzeslücken zu schließen, die entstanden wären, wenn das Gemeinschaftsrecht "von heute auf morgen" weggefallen wäre. Der britische Gesetzgeber hat mit dem "European Union (Withdrawal) Act 2018" ganz eindeutig den Bezug zur EU gekappt, indem er das Gesetz über die Europäischen Gemeinschaften aus dem Jahr 1972 (European Communities Act 1972), welches seinerzeit die Voraussetzung für den Beitritt zur den Europäischen Gemeinschaften geschaffen hatte, ausdrücklich aufgehoben hat (Art. 1), wenn auch relativiert durch die Änderungen durch das "European Union (Withdrawal) Act 2020".
Das Handels- und Kooperationsabkommen vom 24.12.2020 regelt ausdrücklich, dass "die Auslegung dieses Abkommens oder etwaiger Zusatzabkommen durch die Gerichte der Vertragsparteien für die Gerichte der anderen Vertragspartei nicht bindend ist" (Art. Comprov.13 Abs. (3) in Teil EINS, Titel II). Da Vertragsparteien des Abkommens das VK und die EU (nicht die einzelnen Mitgliedstaaten) sind, heißt das auch, dass die Entscheidungen des EuGH für die Behörden und Gerichte des VK nicht mehr bindend sind (Kerstges, AnwBl Online 2021, 116).
4.1.3 Übergangsregelung in Deutschland zu grenzüberschreitenden Verschmelzungen
Mit dem bereits erwähnten 4. UmwÄndG hat der deutsche Gesetzgeber mit Wirkung zum 01.01.2019 in § 122 m UmwG eine Übergangsvorschrift geschaffen, nach welcher vor dem Brexit begonnene grenzüberschreitende Verschmelzungen auch nach dem Brexit noch finalisiert werden dürfen, jedenfalls aus deutscher Sicht. Voraussetzung ist, dass der Verschmelzungsplan vor dem Ablauf des Übergangszeitraums notariell beurkundet und die Verschmelzung unverzüglich, spätestens aber zwei Jahre nach diesem Zeitpunkt, also spätestens bis zum 31.12.2022, mit den erforderlichen Unterlagen zur Eintragung im Handelsregister angemeldet wird. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu, die Regelung trage v. a. dem Umstand Rechnung, dass es sich bei einer Verschmelzung um einen mehraktigen Prozess handele, der einen erheblichen Zeitaufwand erfordern könne (Regierungsentwurf zum 4. UmwÄndG, BT-Drs. 19/5463). In der Tat müssen für die Umsetzung grenzüberschreitender Verschmelzungen zwischen drei und sechs Monate eingeplant werden. Wenn ein Beteiligungsverfahren nach dem Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung (MgVG) einzuleiten ist, dauert es sogar noch länger.
Gleichwohl wird die Regelung in der Literatur vielfach kritisiert (Schmidt, ZIP 2019, 1093 m. w. N.). Denn eine auf § 122 m UmwG gestützte Verschmelzung kann nur dann weiter durchgeführt und finalisiert werden, wenn auch der britische High Court dies zulässt, insbesondere auch nach dem Ablauf des Übergangszeitraums noch Verschmelzungsbescheinigungen ausstellt. Nach telefonischer Auskunft des High Court hatte dieser jedenfalls Ende August 2019 noch Verfahren bzw. Anträge zu grenzüberschreitenden Verschmelzungen angenommen, wohl wissend, dass jedenfal...