Ein häufiges Missverständnis liegt in der Annahme, dass aufgrund des Abschlusses des Handels- und Kooperationsabkommens (im Folgenden: Abkommen) zwischen der EU und dem VK der Handel zwischen beiden Gebieten frei von Handelshemmnissen sein und damit auch das NI-Protokoll weniger – oder gar nicht mehr – benötigt wird.
Das Abkommen erfasst nur Waren, welche die präferenziellen Ursprungsbedingungen erfüllen. Es befreit also nicht von den Zollförmlichkeiten bei der Einfuhr von Waren (summarische Eingangsanmeldung, Meldung der Ankunft des Schiffs bzw. Flugzeugs, Gestellung der Waren, Anmeldung zur vorübergehenden Verwahrung und zum zollrechtlich freien Verkehr). Es gewährt außerdem keine Zollfreiheit für Waren, welche
- die Bedingungen des Abkommens nicht erfüllen (z. B. Drittlandswaren, im VK be- oder verarbeitete Drittlandswaren, bei denen der im VK zu erzielende Wertzuwachs bzw. der erforderliche Wechsel der zolltariflichen Position nicht erreicht wurde, fehlender Ursprungsnachweis),
- in der EU Antidumping-, Ausgleichs- oder Schutzzöllen unterliegen.
Außerdem kommt für Einfuhren aus GB in die EU (und NI) ein zusätzliches Erfordernis hinzu, nämlich das Bereithalten bzw. die Vorlage des vorgesehenen Ursprungsnachweises (Art. 163 UZK) sowie der Antrag auf Anwendung der Zollpräferenz (Art. 56 Abs. 3 UZK), der auch noch nachträglich gestellt werden kann. Ein Vorteil für NI liegt darin, dass VK-Präferenzwaren auch in Irland zollfrei sind, sodass insoweit auch irische Häfen und Flughäfen für die Einfuhr genutzt werden können (insoweit entfällt die Notwendigkeit einer direkten Beförderung zwischen GB und NI). Wenn man Art. 3 des Beschlusses des Gemeinsamen Ausschusses (vgl. Abschnitt 2.2) so auslegt, dass mit der Zollfreiheit nach dem Gemeinsamen Zolltarif auch UK-Präferenzwaren gemeint sind, dann besteht auch für solche Waren bei ihrer Einfuhr in NI keine Gefahr einer Umleitung in die EU (weil diese Waren ja auch in der EU zollfrei sind). Eine Zollerhebung in NI – ebenso wie in der EU – käme für solche Waren nur dann in Betracht, wenn sie in der EU einem Antidumping-, Ausgleichs- oder Schutzzoll unterliegen, weil sie nach den Regeln über den nichtpräferenziellen Ursprung als Ursprungswaren eines anderen Landes (z. B. China) gelten oder weil die Maßnahme (z. B. Schutzzoll) auch VK-Ursprungswaren erfasst. Die Unterschiede zwischen präferenziellen und nichtpräferenziellen Ursprungsregeln bzw. Maßnahmen werden in der Praxis häufig übersehen.
Soweit das Abkommen nur die Zölle – und nicht die Produktvorschriften – regelt, müssen außerdem weiterhin die für die Einfuhr von Drittlandswaren erforderlichen Zertifizierungen, Genehmigungen etc. eingeholt und ggf. vorgeschriebene Kontrollen (z. B. Veterinärkontrollen) durchgeführt werden müssen, die Einfuhren mehr erschweren als Zölle. Eine gegenseitige Anerkennung käme nur dann in Betracht, wenn das VK sich zur Einhaltung der EU-Produktstandards verpflichtet (was zurzeit nicht die Absicht der britischen Regierung ist). Der britische Unternehmerverband (CBI) hat zur Verringerung der Grenzförmlichkeiten bereits eine Vereinbarung zwischen der EU und dem VK über gemeinsame Regeln in Bezug auf Veterinärkontrollen gefordert.