Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Der Verteidiger ist nicht an das Erziehungsprinzip gebunden. Er hat sämtliche Rechte des Jugendlichen im Verfahren zu wahren. |
2. |
Der Jugendliche kann eigenständig einen Verteidiger wählen. |
3. |
Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreter können aus eigenem Recht einen Verteidiger wählen. |
4. |
Die Pflichtverteidigerbestellung richtet sich nach §§ 68, 68a JGG und ist gegenüber dem allgemeinen Verfahrensrecht erheblich erweitert. |
Rdn 976
Literaturhinweise:
Nöding, Die Ausweitung der Pflichtverteidigung durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, StV 2022, 52
Pieplow, Verteidigung, ZJJ 2009, 381 Reisenhofer, Jugendstrafrecht in der anwaltlichen Praxis, 2012
Schlickum, Verteidigung in Jugendstrafsachen – Mithilfe zur Verurteilung?, StV 1981, 359
s.a. die Hinw. bei → JGG-Besonderheiten, Allgemeines, Teil A Rdn 603.
Rdn 977
1.a) Die besonderen Aufgaben des Verteidigers in Jugendstrafverfahren spielen sowohl im Ermittlungsverfahren (s. Burhoff, EV, Rn 2766 ff.) als auch in der HV (s. Burhoff, HV, Rn 2208 ff.) und im Rechtsmittelverfahren eine Rolle.
Rdn 978
b) Einen "Jugendverteidiger" quasi als Entsprechung zu Jugendstaatsanwalt und Jugendrichter (→ JGG-Besonderheiten, Zuständigkeiten, Teil A Rdn 1040) sieht das JGG nicht vor. Anders als für Jugendstaatsanwalt und Jugendrichter schreibt das JGG für den Jugendstrafverteidiger nicht vor, dass dieser erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein muss (§ 37 JGG), wobei Art. 20 der EU-Richtlinie 2016/800 allerdings verlangt, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Förderung spezieller Weiterbildungsmaßnahmen für im Jugendstrafverfahren tätige Verteidiger ergreifen. Faktisch sind bei der Verteidigung von Jugendlichen und Heranwachsenden nicht nur Kenntnisse des materiellen Jugendstrafrechts sowie des Verfahrensrechts notwendig, sondern auch Kenntnisse (entwicklungs-)psychologischer und soziologischer Zusammenhänge des Verhaltens junger Menschen (Reisenhofer, S. 59; Beulke StV 1987, 458, 461; Nöding, Rn 308, 418). Den Verteidiger selbst trifft allerdings keine erzieherische Verpflichtung; er ist nicht an das Erziehungsziel gebunden (Ostendorf/Sommerfeld, § 68 Rn 3; D/S/S-Diemer, § 68 Rn 6; Eisenberg/Kölbel, § 68 Rn 13 ff.). Jugendstrafrecht ist und bleibt Strafrecht! Die Tatbestände und Beweisregeln gelten unabhängig davon, wie alt der Beschuldigte ist. Dem staatlichen Strafanspruch ist demnach auch dann entgegenzutreten, wenn er im Gewand des Erziehungsgedankens daherkommt (Nöding, Rn 306). Der Verteidiger ist auch im Jugendstrafverfahren dazu berufen, die Interessen des Beschuldigten mit pflichtgemäßer Einseitigkeit wahrzunehmen (Schlickum StV 1981, 359).
☆ Ein Verteidiger im Jugendstrafverfahren hat den Jugendlichen auch dahin gehend zu beraten , dass sein Recht , zu schweigen nicht zu seinen Lasten ausgelegt werden kann, bei rechtsstaatlicher Anwendung der materiellen und prozessualen Vorschriften ihm die Tat nicht nachgewiesen werden kann und ggf. Beweisverwertungsverbote geltend gemacht werden können.beraten, dass sein Recht, zu schweigen nicht zu seinen Lasten ausgelegt werden kann, bei rechtsstaatlicher Anwendung der materiellen und prozessualen Vorschriften ihm die Tat nicht nachgewiesen werden kann und ggf. Beweisverwertungsverbote geltend gemacht werden können.
Rdn 979
Der Verteidiger sollte auch ein richtiges Bild des Jugendlichen in der HV vermitteln. Viele Jugendliche sind vor Gericht sehr unsicher und wirken dadurch schnell entweder einsilbig und "nicht einsichtig", oder sie überspielen ihre Unsicherheit mit arrogantem und respektlosem Auftreten. Hierfür ist wichtig, dem jungen Mandanten den Ablauf der HV sowie die Funktion der einzelnen Verfahrensbeteiligter in einem vorbereitenden Gespräch ausführlich zu erklären (Burhoff, HV, Rn 4046 ff.). Zu dieser Aufklärung gehört auch, die Rolle der Jugendgerichtshilfe zu erläutern sowie die Bedeutung von Rechtsbegriffen zu erklären, damit z.B. "schädliche Neigungen" oder "Neigeverzögerungen" nicht als persönliche Abwertung verstanden werden.
☆ Zusammengefasst hat der Verteidiger die Aufgabe, die Subjektstellung des jungen Mandanten im Verfahren zu stärken , seine sprachliche, intellektuelle und soziale Unterlegenheit im Verfahren zu kompensieren, seine Unerfahrenheit im Umgang mit den Gerichtsritualen und seine fehlenden Rechtskenntnisse auszugleichen und auf strenge Einhaltung aller zugunsten seines Mandanten geltenden Verfahrensvorschriften zu bestehen, auf Einhaltung jugendrechtlicher Standards auch gegenüber abweichender richterlicher Routine oder regionaler Rückständigkeit zu beharren und auch bei der Rechtsfolgenwahl sich als Gegenspieler erzieherischer Zugriffe auf die Rechte des beschuldigten Jugendlichen zu betätigen ( Nöding , Rn 306).Subjektstellung des jungen Mandanten im Verfahren zu stärken, seine sprachliche, intellektuelle und soziale Unterlegenheit im Verfahren zu kompensieren, seine Unerfahrenheit im Umgang m...