Daniel Amelung, Lars Bachler
Rdn 1030
Literaturhinweise:
s. die Hinw. bei → Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil B Rdn 847, bei → Menschenrechtsbeschwerde, Teil C Rdn 1, und bei → Verfassungsbeschwerde, Individualbeschwerde, Teil C Rdn 729.
Rdn 1031
1.a) Als außerordentlicher Rechtsbehelf ist gegen Haftentscheidungen auch die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde gegeben.
☆ Nicht zuletzt wegen der besonderen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts sind die Erfolgsquoten von Verfassungsbeschwerden in Haftsachen im Verhältnis zum allgemeinen Durchschnitt deutlich erhöht .Erfolgsquoten von Verfassungsbeschwerden in Haftsachen im Verhältnis zum allgemeinen Durchschnitt deutlich erhöht.
Rdn 1032
Die Verfassungsbeschwerde muss aber qualifiziert begründet werden (instruktiv für die Verteidigung BVerfG StRR 2007, 203 [Ls.]; VerfGH Berlin, Beschl. v. 25.4.2008, 164/07, zit. nach Paeffgen NStZ 2010, 200, 201, der diese "Beweislast" aber auch die dortigen Überlegungen zum Grundsatz der Beschleunigung im Hinblick auf u.a. den Grundsatz des "nemo tenetur" und auch § 136a sehr kritisch würdigt; a → Verfassungsbeschwerde, Begründung, U-Haft, Teil C Rdn 1056; Radtke/Hohmann/Tsambikakis, § 117 Rn 17 ff., insbes.a. Fn 25).
Rdn 1033
b) Das BVerfG kann nur eingreifen, wenn die Fachgerichte Verfassungsrecht verletzt haben. Dies ist nicht schon dann anzunehmen, wenn die angegriffene Entscheidung objektiv fehlerhaft ist. Der Fehler muss vielmehr in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen. Das kann in der Regel erst angenommen werden, wenn eine grds. unrichtige Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts oder eine fehlerhafte Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist (BVerfG, Beschl. v. 24.10.1996 – 2 BvR 1851/94 u.a., NJW 1997, 929 mit Anm. Ambos StV 1997, 39; s.a. die Anm. von Strack JZ 1997, 142; Herrmann, Rn 1181 ff.; MAH/Eschelbach, § 28 Rn 2, dort insbes. Fn 1; → Verfassungsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 729, m.w.N.).
Rdn 1034
c) Vorab ist der ordentliche Rechtsweg auszuschöpfen. Dies gilt selbst dann, wenn die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsmittels in Rspr. und Lit. strittig ist (wegen der Einzelh. → Verfassungsbeschwerde, Zulässigkeit, Rechtswegerschöpfung, Teil C Rdn 1181).
☆ Nach Ansicht des BVerfG bedarf es selbst dann der Einlegung einer weiteren Beschwerde gegen einen aufgehobenen Haftbefehl , wenn dieser durch einen neuen Haftbefehl prozessual überholt ist (BVerfG, Beschl. v. 31.10.2005 – 2 BvR 2233/04, StraFo 2006, 20; s.a. Paeffgen NStZ 2007, 142, 147).Beschwerde gegen einen aufgehobenen Haftbefehl, wenn dieser durch einen neuen Haftbefehl prozessual überholt ist (BVerfG, Beschl. v. 31.10.2005 – 2 BvR 2233/04, StraFo 2006, 20; s.a. Paeffgen NStZ 2007, 142, 147).
Rdn 1035
2. Konventionsverstöße gegen die EMRK können mittels Individualrechtsbeschwerde verfolgt werden (eingehend dazu → Menschenrechtsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 1, m.w.N.).
Rdn 1036
a) Auch wenn die unmittelbare Wirkung der Rechtsprechung des EGMR als gering angesehen wird (MAH-Eschelbach, § 29 Rn 7), dürfen dennoch die Orientierungswirkung sowie die normative Leitfunktion entsprechender Judikate bei der Auslegung innerstaatlichen Rechts nicht verkannt werden (Esser StV 2005, 348, 352; Vogel/Matt StV 2007, 206; MAH-Eschelbach, a.a.O.).
Rdn 1037
b) Die im Zusammenhang mit dem Recht auf Akteneinsicht gem. § 147 Abs. 2 S. 2 (→ Rechtsbehelf, Untersuchungshaft, Allgemeines, Teil B Rdn 865 ff.) ergangenen Entscheidungen des EGMR sind wegweisend für die Entwicklung der nationalen Rspr. und haben die Gesetzgebung im Rahmen der Reform des Rechts der U-Haft zum 1.1.2010 wesentlich beeinflusst (nur EGMR Nr. 11364/03, Urt. v. 13.12.2007 [Mooren v. Deutschland I] StV 2008, 475 mit Anm. Hagmann und Pauly u. mit Anm. J. Herrmann/D. Herrmann StRR 2008, 98; s.a. EGMR, Urt. v. 13.12.2007 – 11364/03 [Mooren/Deutschland I], StV 2008, 475 m. Anm. D. Herrmann/J. Herrmann StRR 2008, 98 ff.; Urt. v. 9.7.2009 – 11364/03 [Mooren v. Deutschland II], StV 2010, 490 ff. m. Anm. Pauly StraFo 2010, 63 u. Anm. D. Herrmann StRR 2009, 473 ff.; s.a. BVerfG, Beschl. v. 11.7.1994 – 2 BvR 777/94, NJW 1994, 3219; OLG Hamm, Beschl. v. 13.2.2002 – 2 BL 7/02, NStZ 2003, 386; LG Magdeburg, Beschl. v. 1.3.2004 – 25 Qs 22/04, StV 2004, 327; AG Halberstadt, Beschl. v. 8.4.2004 – 3 Gs 12/04, StV 2004, 549; AG Magdeburg, Beschl. v. 2.2.2016 – 5 Gs 254 Js 39963/15, StV 2016, 448; s.a. Deckers StraFo 2009, 444; Herrmann, Rn 360 ff.; Kempf, S. 217 ff.; Meyer-Goßner, § 147 Rn 25a; Michalke NJW 2010, 18; Park StV 2009, 276; Püschel StraFo 2009, 134, 135; Schlothauer StV 2001, 193; Weider StV 2010, 102).
Rdn 1038
c) Auch die Urteile des EGMR zu Fragen der Beschleunigung in Haftsachen gem. Art. 5 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 EMRK und Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK bestätigen deren Bedeutung für das nationale Recht. Der verhaftete Beschuldigte hat Anspruch auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Haftentlassung (EGMR, Urt. v. 29.7.2004 – 49746/99, NJW 200...