Daniel Hagmann, Monika Oerder
Rdn 1055
Literaturhinweise:
s. die Hinw. bei → Verfassungsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 730.
Rdn 1056
1. Der Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld" (nulla poena sine culpa) ist in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG), sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert. Er gebietet, dass Strafen oder strafähnliche Sanktionen in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen. Straftatbestand und Strafrechtsfolge müssen sachgerecht aufeinander abgestimmt sein. Insoweit deckt sich der Schuldgrundsatz in seinen die Strafe begrenzenden Auswirkungen mit dem Verfassungsgrundsatz des Übermaßverbots. Er schließt die strafende oder strafähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters aus (BVerfGE 110, 1, 13). Hierbei handelt es sich um sog. Fixpunkte unseres Strafrechtssystems. "Das Fundament des deutschen Strafrechtssystems hat der Zweite Senat des BVerfG in seinem Lissabon- Urteil (BVerfGE 123, 267 ff. = EuGRZ 2009, 339 ff.) “in Stein gemeißelt’: Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne. Der Grundsatz, dass Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage in der Menschenwürde des Art. 1 GG und gehört deshalb zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität… Ausgehend von diesen abstrakten Grundsätzen, dem Gebot materieller Gerechtigkeit und dem Konzept der Freiheit und Verantwortung ist es nur konsequent, dass eine Strafrechtsordnung auch das Streben nach materieller Wahrheit beinhalten muss: Gerechtigkeit setzt Wahrheit voraus. Die Schuld des Täters, der mit Freiheit und Verantwortung begabt ist, verlangt, dass nach bestem Wissen und Gewissen alle Umstände einer Straftat aufgeklärt werden" (Landau, Verfassungsrecht und Strafrecht, EuGRZ 2016, 505 f.). Die richterrechtlichen Grundsätze zur gleichartigen Wahlfeststellung sind mit dem Schuldgrundsatz vereinbar, denn die schuldhafte Verwirklichung eines bestimmten Straftatbestandes steht zur Überzeugung des Gerichts fest. Unsicher ist allein der Zeitpunkt oder welche von mehreren Handlungen den Erfolg tatsächlich herbeigeführt hat, so dass hierdurch weder der Schuldgrundsatz noch Art. 103 Abs. 2 GG verletzt werden (BVerfG, Beschl. v. 9.8.2023 – 2 BvR 1373/20, NStZ-RR 2023, 319).
Rdn 1057
2. Der Schuldgrundsatz überschneidet sich mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (→ Verfassungsbeschwerde, Begründung, Verhältnismäßigkeitsprinzip, Teil C Rdn 1082) und dem Gebot der Wahrheitserforschung (→ Verfassungsbeschwerde, Begründung, Wahrheitserforschungsgebot, Teil C Rdn 1103). Aus verfassungsrechtlichen Gründen muss die Schuld des Verurteilten daher hinreichend festgestellt sein. Das heißt, dass dem Angeklagten Tat und Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden müssen und der Angeklagte bis dahin als unschuldig gilt (BVerfG, NJW 2013, 1058, 1060 m.w.N.). Formalgeständnisse ohne richterliche Überprüfungen der Richtigkeit reichen nicht (BGHSt 59, 21; BGH NStZ 2014, 53). Daraus folgt, dass die objektiv hohe Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung durch den Angeklagten nachvollziehbar dargelegt werden muss (BVerfG NJW 2003, 2444 f.), was freilich in der Praxis nicht immer erfolgt. Das BVerfG ist bei der Aufstellung des Beweismaßes der "objektiv hohen Wahrscheinlichkeit" von einer zu wohlwollenden Annahme zugunsten der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung ausgegangen. Tatsächlich arbeitet die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nämlich mit drei nicht zu vereinbarenden Beweismaßtheorien (so mit Recht: Herdegen NJW 2003, 3513).
Siehe auch: → Verfassungsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 729, m.w.N.