Daniel Hagmann, Monika Oerder
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip hat Verfassungsrang. |
2. |
Der erste Ansatzpunkt zur Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist die Frage nach der Rechtfertigung einer Strafnorm. |
3. |
Der zweite Ansatzpunkt zur Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist der Anwendungsbereich in der (konkreten) Strafzumessung. |
Rdn 1083
Literaturhinweise:
Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 3. Aufl. 2024
s.a. die Hinw. bei → Verfassungsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 730.
Rdn 1084
1. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip hat Verfassungsrang. Der ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist (BVerfGE 19, 342, 348 f.; 20, 144; 32, 87; 36, 212). Das Verhältnismäßigkeitsprinzip überschneidet sich mit dem Schuldgrundsatz (→ Verfassungsbeschwerde, Begründung, Schuldgrundsatz, Teil C Rdn 1054) und dem Gebot der Wahrheitserforschung (→ Verfassungsbeschwerde, Begründung, Wahrheitserforschungsgebot, Teil C Rdn 1103).
☆ Das Verhältnismäßigkeitsprinzip kann für den Verteidiger in zwei Ansatzpunkten zu prüfen sein:zwei Ansatzpunkten zu prüfen sein:
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Das Gesetz selbst kann unverhältnismäßig sein (dazu Teil C Rdn 1085 ff.) oder |
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die konkrete Strafzumessung hieraus (dazu Teil C Rdn 1091 ff.). |
Das BVerfG spricht von einem Verfassungsgebot des sinn- und maßvollen Strafens (BVerfGE 28, 386, 391; 73, 206, 253).
Rdn 1085
2.a) Der erste Ansatzpunkt zur Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist die Frage nach der Rechtfertigung einer Strafnorm.
Rdn 1086
b)aa) "Durch gesetzliche Regelungen erfolgende Eingriffe in Grundrechte können lediglich dann gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber mit dem Gesetz verfassungsrechtlich legitime Zwecke verfolgt. Ob dies der Fall ist, unterliegt der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht" (BVerfG, BVerfG, Beschl. v. 29.9.2022 – 1 BvR 2380/21, BVerfGE 163, 107 ff. Rn 85). Einerseits hat das Strafrecht die Aufgabe, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht werden als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion bezeichnet (BVerfGE 45, 187, 253 f. m.w.N.). Aber andererseits steht hiergegen das Freiheitsrecht des Beschuldigten. Der zwischen einem Pönalisierungsgebot und einem Pönalisierungsverbot bestehende Interessengegensatz soll durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aufgelöst werden (Umbach/Clemens/Dollinger/Niemöller, Kap. A Rn 6 ff. m.w.N.). Wird Freiheitsstrafe angedroht, so ermöglicht dies einen Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG geschützte Grundrecht der Freiheit der Person. Die Freiheit der Person ist aber ein so hohes Rechtsgut, dass in sie aufgrund des Gesetzesvorbehalts des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG nur aus besonders gewichtigen Gründen eingegriffen werden darf. Solche Eingriffe sind im Allgemeinen nur zulässig, wenn der Schutz anderer oder der Allgemeinheit dies unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert (BVerfGE 90, 145, 172). "Für die verfassungsrechtliche Prüfung ist nicht ausschlaggebend, ob die maßgeblichen Gründe für eine gesetzliche Neuregelung im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich genannt wurden oder gar den Gesetzesmaterialien zu entnehmen sind" (BVerfG, Beschl. v. 29.9.2022 – 1 BvR 2380/21, BVerfGE 163, 107 ff. Rn 86). Geht es um die Begegnung einer Gefahrenlage, ist auch zu prüfen, "ob die Einschätzung und die Prognose der insoweit drohenden Gefahren auf einer hinreichend gesicherten Grundlage beruhen. Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung ist also sowohl die Einschätzung des Gesetzgebers zum Vorliegen einer solchen Gefahrenlage als auch die Zuverlässigkeit der Grundlagen, aus denen er diese abgeleitet hat oder ableiten durfte. Allerdings belässt ihm die Verfassung für beides einen Spielraum, der vom Bundesverfassungsgericht lediglich in begrenztem Umfang überprüft werden kann" (BVerfG, Beschl. v. 29.9.2022 – 1 BvR 2380/21, BVerfGE 163, 107 ff. Rn 88).
Rdn 1087
bb) Nach diesem Grundsatz muss ein grundrechtseinschränkendes Gesetz geeignet und erforderlich sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Es darf zudem nicht unzumutbar sein und den Betroffenen übermäßig belasten. Ein Gesetz ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann. Es ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können. Bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit des gewählten Mittels zur Erreichung der erstrebten Ziele sowie bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Einschätzung und Prognose der dem Einzelnen oder der Allgemeinheit drohenden Gefahren steht dem Gesetzgeber ein Beurteilungsspielraum zu, welch...