Dr. Andreas Geipel, Daniel Hagmann
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Die EMRK sieht die Wiederaufnahme eines Verfahrens nicht ausdrücklich vor. Allerdings finden sich Regelungen, die die Wiederaufnahme des Verfahrens ermöglichen. |
2. |
Art. 80 VerfO-EGMR normiert die Voraussetzungen eines Antrags zur Wiederaufnahme des Verfahrens. |
3. |
Über den Antrag entscheidet grds. dieselbe Kammer, die über das ursprüngliche Verfahren entschieden hat. |
4. |
Wegen der Kollision der Wiederaufnahme des Verfahrens mit der Rechtskraftwirkung der Urteile des EGMR ist die Wiederaufnahme nur unter engen Voraussetzungen zulässig. |
Rdn 408
Literaturhinweise:
s. die Hinw. bei → Menschenrechtsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 2.
Rdn 409
1.a) Die EMRK sieht die Wiederaufnahme eines Verfahrens nicht ausdrücklich vor. Allerdings finden sich Regelungen, die die Wiederaufnahme des Verfahrens ermöglichen: Nach Art. 37 Abs. 2 EMRK kann die Wiedereintragung einer im Register bereits gestrichenen Rechtssache (→ Menschenrechtsbeschwerde, Streichung aus der Liste, Teil C Rdn 304) erfolgen, wenn der EGMR dies den Umständen nach für gerechtfertigt hält. Art. 43 Abs. 5 VerfO-EGMR präzisiert dies dahin gehend, dass dem Gerichtshof die erneute Eintragung in das Register nach vorheriger Streichung offensteht, sofern er dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände für gerechtfertigt erachtet.
Rdn 410
b) Nach seiner Rspr. hat der EGMR unter außergewöhnlichen Umständen, etwa bei Vorliegen eines offenkundigen Tatsachenirrtums oder eines Fehlers bei der Bewertung der einschlägigen Zulässigkeitsvoraussetzungen, stets die Befugnis, einen Fall wiederaufzunehmen und die Irrtümer und Fehler richtigzustellen bzw. zu korrigieren, soweit dies im Interesse der Rechtspflege geboten ist (EGMR, Urt. v. 16.6.2005 – 61603/00 [Storck/Deutschland Nr. 67], NJW-RR 2006, 308 m.w.N.; zur Korrektur bloßer Schreibfehler u.Ä. → Menschenrechtsbeschwerde, Urteil/Entscheidung, Teil C Rdn 332).
Rdn 411
2. Den formellen Rahmen zur Wiederaufnahme eines Verfahrens schafft Art. 80 VerfO-EGMR, der die Voraussetzungen eines Antrags zur Wiederaufnahme des Verfahrens benennt. Danach setzt ein solcher voraus, dass eine Tatsache bekannt wird, die geeignet gewesen wäre, einen maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang der bereits entschiedenen Rechtssache auszuüben. Diese Tatsache muss dem EGMR bei Urteilserlass unbekannt gewesen sein; der antragstellenden Partei darf sie nach menschlichem Ermessen – anders als bei § 359 Nr. 5 – nicht bekannt gewesen sein ("could not reasonably have been known to that party", grundlegend hierzu EGMR, Urt. v. 28.1.2000 – 21825/93 [McGinley u. Egan/Vereinigtes Königreich Nr. 32 – 35]). Nach Bekanntwerden der Tatsache kann die betroffene Partei binnen sechs Monaten einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens einreichen. Dieser muss das Urteil bezeichnen, auf das er sich bezieht, und die Angaben enthalten, aus denen sich die Zulässigkeitsvoraussetzungen ergeben. Ihm sind Kopien aller zur Begründung dienenden Unterlagen beizufügen.
Rdn 412
3. Über den Antrag entscheidet grds. dieselbe Kammer, die über das ursprüngliche Verfahren entschieden hat. Ist dies nicht möglich, bildet oder ergänzt der Präsident des EGMR die Kammer durch Losverfahren. Diese beschließt, den Antrag abzuweisen, wenn sie zu der Auffassung gelangt, der Antrag gebe keinen Grund zur weiteren Prüfung; weist die Kammer diesen nicht ab, leitet der Kanzler ihn der gegnerischen Partei zur Stellungnahme zu. Der Präsident der Kammer bestimmt die Einlassungsfristen und den Termin zur mündlichen Verhandlung, sofern eine solche stattfinden soll (→ Menschenrechtsbeschwerde, mündliche Verhandlung, Teil C Rdn 211). Die Kammer entscheidet sodann durch Urteil (→ Menschenrechtsbeschwerde, Urteil/Entscheidung, Teil C Rdn 323).
Rdn 413
4.a) Die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens kollidiert mit der in Art. 44 EMRK normierten Rechtskraftwirkung der Urteile des EGMR. Wegen der Durchbrechung der Rechtskraft und der damit einhergehenden Aufhebung der Bindungswirkung ist die Wiederaufnahme nur unter engen Voraussetzungen zulässig (grundlegend EGMR, Urt. v. 10.7.1996 – 13416/87 [Pardo/Frankreich Nr. 21]; Meyer-Ladewig, Art. 44 EMRK Rn 5). Wesentlich ist, ob die Achtung der Menschenrechte eine erneute Aufnahme der Prüfung der Menschenrechtsbeschwerde erfordert (Grote/Marauhn/Cremer, Kap. 32 Rn 29). Dazu folgende Rechtsprechungsbeispiele:
Rdn 414
Wiederaufnahmegrund angenommen:
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Tod des Beschwerdeführers vor Urteilserlass ohne Information des EGMR und ohne Weiterführung des Verfahrens durch einen Erben (EGMR, Urt. v. 20.9.2011 – 64541/01 [Bolovan/Rumänien Nr. 9 – 11]); |
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zwecks Umschreibung der Verurteilung auf einen Erben (EGMR, Urt. v. 8.6.2010 – 3441/02 [Wypukol-Pietka/Polen Nr. 7]), |
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wegen zu Unrecht angenommener Tatbestandsvoraussetzungen (EGMR, Urt. v. 26.10.2010 – 18404/91 [Nicola/Türkei Nr. 15 – 18] für Eigentümerstellung), |
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zur Korrektur nationaler Verfahrenskosten nach einer Fehlinterpretation des Vorbringens der Regierung durch den Gerichtshof (EGMR, Urt. ... |