Dr. Andreas Geipel, Daniel Hagmann
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Zuständig für die Prüfung und Entscheidung der Nichtigkeitsklage ist im ersten Rechtszug das Gericht beim Gerichtshof der Europäischen Union. |
2. |
Gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV können natürliche und juristische Personen die Individualnichtigkeitsklage einreichen. |
3. |
Gegenstand der Nichtigkeitsklage kann grds. jede gegenüber dem Kläger ergangene oder ihn unmittelbar betreffende Handlung sein. |
4. |
Klagegegner ist das Organ oder die Einrichtung, die den anzugreifenden Rechtsakt erlassen hat. |
5. |
Die Einlegung einer Nichtigkeitsklage bedarf der Schriftform. |
6. |
Klagen natürlicher und juristischer Personen vor dem EuGH bedürfen eines besonderen Rechtsschutzinteresses. |
7. |
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Klage gehören zu den unverzichtbaren Prozessvoraussetzungen, weswegen der EuGH diese von Amts wegen prüft. |
Rdn 715
Literaturhinweise:
Everling, Rechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, EuR 2009 Beiheft 1, 71
s.a. die Hinw. bei → Nichtigkeitsklage, Allgemeines, Teil C Rdn 458.
Rdn 716
1. Zuständig für die Prüfung und Entscheidung der Nichtigkeitsklage ist im ersten Rechtszug das Gericht beim Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 256 Abs. 1 S. 1 AEUV; (→ Nichtigkeitsklage, EuGH, Teil C Rdn 514).
☆ Im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen gilt dies allerdings nicht uneingeschränkt : Gemäß Art. 276 AEUV ist der Gerichtshof nicht zuständig für die Überprüfung der Gültigkeit oder Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats oder für die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.Strafsachen gilt dies allerdings nicht uneingeschränkt: Gemäß Art. 276 AEUV ist der Gerichtshof nicht zuständig für die Überprüfung der Gültigkeit oder Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats oder für die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.
Rdn 717
2. Gem. Art. 263 Abs. 4 AEUV können natürliche und juristische Personen die Individualnichtigkeitsklage einreichen.
Rdn 718
a) Der Begriff der juristischen Person ist unionsrechtlich (autonom) auszulegen (Böse, Europ. Strafrecht, § 54 Rn 26 m.w.N.). Insoweit ist wesentlich, ob ihr das maßgebliche nationale Recht oder das Völkerrecht Rechtspersönlichkeit verleihen, unerheblich ist dagegen die konkrete Einordnung des nationalen Rechts (Grote/Marauhn/Schorkopf, Kap. 30 Rn 131). Zu den juristischen Personen in diesem Sinne zählen auch staatsrechtliche Untergliederungen der Mitgliedstaaten wie Länder und Gemeinden (Grote/Marauhn/Schorkopf, Kapitel 30 Rn 135 m.w.N.).
Rdn 719
b) Staatsangehörigkeit und (Wohn-)Sitz der (natürlichen oder juristischen) Person sind ohne Bedeutung (Grote/Marauhn/Schorkopf, Kap. 30 Rn 131).
Rdn 720
3. Gegenstand der Nichtigkeitsklage kann grds. jede gegenüber dem Kläger ergangene oder ihn unmittelbar betreffende Handlung sein (→ Nichtigkeitsklage, Klagegegenstand, Teil C Rdn 567). Voraussetzung ist insoweit eine bestehende Klagebefugnis (→ Nichtigkeitsklage, Klagebefugnis, Teil C Rdn 558).
Rdn 721
4. Klagegegner ist das Organ oder die Einrichtung, die den anzugreifenden Rechtsakt erlassen hat. Nach Art. 263 Abs. 1 S. 1. AEUV können dies der Rat, die Kommission, die Europäische Zentralbank, das Europäische Parlaments und der Europäische Rat sein. S. 2 erweitert Anwendungsbereich auf Einrichtungen und sonstige Stellen der Union, wodurch auch Handlungen europäischer Agenturen wie Eurojust, Europol oder Frontex grds. vom EuGH auf deren Rechtmäßigkeit überprüft werden können. In deren Gründungsakten können allerdings besondere Bedingungen und Einzelheiten für die Erhebung von Klagen natürlicher und juristischer Personen vorgesehen sein (Art. 263 Abs. 5 AEUV). Außerdem ist die Übergangsregelung im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit zu beachten (→ Nichtigkeitsklage, Allgemeines, Teil C Rdn 462).
Rdn 722
5. Die Einlegung einer Nichtigkeitsklage bedarf der Schriftform (→ Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, Form, schriftlich, Teil A Rdn 1531). Darüber hinaus geben die Satzung des EuGH, die Verfahrensordnung des Gerichts sowie dessen Praktischen Anweisungen (→ Nichtigkeitsklage, EuGH, Teil C Rdn 525) weiter gehende formale Anforderungen (→ Nichtigkeitsklage, Klageschrift, Teil C Rdn 579). Die Nichtigkeitsklage ist zudem fristgebunden (→ Nichtigkeitsklage, Frist, Teil C Rdn 545).
Rdn 723
6.a) Klagen natürlicher und juristischer Personen vor dem EuGH bedürfen eines besonderen Rechtsschutzinteresses: Dieses besteht nur, wenn die Nichtigerklärung der beanstandeten Maßnahme Rechtswirkungen erzeugen kann (EuGH, Urt. v. 9.6.2011 – C-401/09 P [Evropaïki Dynamiki/EZB Nr. 49] m.w.N. – Genugtuung verschaffen).
Rdn 724
b) Erledigt sich das Klagebegehren während des Rechtsstreits, ...