Entscheidungsstichwort (Thema)

§ 7 Abs. 2 WahlO als essentielle Wahlvorschrift. Pflicht des Wahlvorstands zur unverzüglichen Prüfung der Wahlvorschläge. Schuldhafte Verzögerung des Wahlvorstands bei der Beanstandung von Wahlvorschlägen. Auswirkungen eines Verfahrensfehlers auf das Wahlergebnis. Grundsatz der freien Beweiswürdigung aus § 286 Abs. 1 ZPO

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Wahlvorstand hat sich so zu organisieren, dass er den Pflichten der unverzüglichen Prüfung von Wahlvorschlägen und unverzüglichen schriftlichen Benachrichtigung gem. § 7 Abs. 2 WahlO nachkommen kann. Für die Endphase der Einreichungsfrist heißt dies, dass er insbesondere die rechtzeitige Prüfung und Benachrichtigung i. S. v. § 7 Abs. 2 Wahlordnung abzusichern hat (Anschluss an LAG Hessen 21.12.1995 - 12 TaBVGa 195/95, NZA-RR 1996, 461).

2. Schickt der Wahlvorstand eine*n Boten*Botin an eine*n Listenführer*in allein mit der Mitteilung, es liege ein Beanstandungsschreiben gem. § 7 Abs. 2 WahlO vor, welches sich diese*r abholen möge, verzögert er schuldhaft die Übermittlung dieses Schreibens, weil er es dem*der Boten*Botin schon hätte mitgeben können.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei § 7 Abs. 2 WahlO handelt es sich um eine wesentliche Wahlvorschrift, deren Verletzung eine Wahlanfechtung begründen kann. Die Ermöglichung der Einreichung von Wahlvorschlägen und bei Fehlerhaftigkeit die Ermöglichung der Heilung heilbarer Fehler ist essenziell für eine Betriebsratswahl, weil nur bei einer ausreichenden Zahl von gültigen Wahlbewerbungen eine tatsächliche Auswahl für die Wähler möglich ist.

2. Für die Wahlanfechtung ist entscheidend, ob bei einer hypothetischen Betrachtungsweise eine Wahl ohne den Verstoß unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zwingend zu demselben Wahlergebnis geführt hätte. Eine verfahrensfehlerhafte Betriebsratswahl muss nur dann nicht wiederholt werden, wenn sich konkret feststellen lässt, dass auch bei der Einhaltung der Wahlvorschriften kein anderes Wahlergebnis erzielt worden wäre. Kann diese Feststellung nicht getroffen werden, bleibt es bei der Unwirksamkeit der Wahl.

3. Nach der Beweisaufnahme (z.B. Zeugenvernehmung) ist für die Überzeugungsbildung des Gerichts der Maßstab des § 286 Abs. 1 ZPO entscheidend. Das Gericht kann sich mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig ausschließen zu müssen.

 

Normenkette

BetrVG § 19; WahlO § 7 Abs. 2; ZPO § 286 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Gera (Entscheidung vom 10.11.2022; Aktenzeichen 5 BV 31/22)

 

Tenor

Der Beschluss des Arbeitsgerichts Gera vom 10.11.2022 - 5 BV 31/22 - wird abgeändert.

Die Betriebsratswahl vom 11.5.2022 im Betrieb der Beteiligten zu 8) ist unwirksam.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der Betriebsratswahl vom 11./13.05.2022 im Betrieb der Beteiligten zu 8).

Die Beteiligte zu 8) betrieb in G... ein Unternehmen mit dem Gegenstand der Produktion, des Verkaufs und des Handels von Textilwaren, insbesondere der Erzeugung von Roh- und Bundgeweben aus Baumwolle sowie den Handel mit Waren aller Art. Zum Zeitpunkt der angefochtenen Wahl beschäftigte sie ca. 240 Arbeitnehmer*innen, darunter mehr als 25 Arbeitnehmer*innen syrischer Herkunft.

Die Beteiligten zu 1) bis 7) sind Arbeitnehmer*innen des Beteiligten zu 8); der Beteiligte zu 9) ist der aus der angefochtenen Wahl hervorgegangene Betriebsrat.

Es bestand ein Wahlvorstand aus drei Personen. Vorsitzende war Frau T... Z... Weitere Mitglieder waren U... H... und D... S..., für die Ersatzmitglieder, M... L... und A... K..., bestellt waren.

In der Sitzung vom 04.03.2022 beschloss der Wahlvorstand ein Wahlausschreiben, wegen dessen Inhalts im Einzelnen auf die als Anlage zur Antragsschrift gereichte Kopie hiervon (Bl. 11 bis 13 der Akte) Bezug genommen wird. Die Frist für die Einreichung von Wahlvorschlägen war auf den 11.04.2022 bis 12:00 Uhr festgesetzt. Die Wahl sollte stattfinden am 11. und 13.05.2022.

Die Vorsitzende des Wahlvorstandes Frau Z... befand sich vom 06.04. bis einschließlich 08.04.2022 in B... in Ö... auf einer HR-Klausurtagung bei der Muttergesellschaft der Beteiligten zu 8).

Am Mittwoch den 06.04.2022 übergab der Zeuge M... B... einen Wahlvorschlag dem Wahlvorstandsmitglied H... Auf dem Wahlvorschlag war einer der Wahlbewerber, Herr R... H..., wieder gestrichen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Erscheinungsbildes und Inhalts dieses Wahlvorschlages wird auf die zu den Akten gereichte Kopie hiervon (Bl. 14 und 15 der Akte) Bezug genommen.

Die Prüfung der Wahlvorschläge fand statt am Montag den 11.04.2023.

An diesem Tag um ca. 09:25 Uhr informierte ein Wahlvorstandsmitglied, Herrn D... S..., den Zeugen B... darüber, dass der Wahlvorschlag beanstandet werde. Er solle sich zur Wahlvorstandsvorsitzenden in den Besprechungsraum 3 begeben. Der Zeuge B... kam dem nicht sofort nach, weil er sich in seiner Pause befand. Um ca. 10:30 Uhr suchte er das Büro der Wahlvorstandsvorsitzenden...

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